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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Wegbeschreibung gekritzelt hatte. Sie lief den Pier entlang, an schmuddeligen Aquarien voller Fische, Krabben und Seegurken vorbei, links war das Green Cottage und der Bankautomat, rechts der rostige Container mit der Polizeistation darin. Hier sollte sie abbiegen.
    Sie sah die kleinen Gemüsefelder, auf denen alte Bauern arbeiteten. Gleich dahinter begann der Anstieg, genau wie Paul es beschrieben hatte.
    Der Weg war steil und mühsam, und als Elizabeth Owen den Hügel endlich erklommen hatte, war sie völlig verschwitzt und außer Atem. Bei den Parkbänken machte sie eine kurze Pause, bog wieder nach links ab, kurz darauf noch einmal, und keine hundert Meter weiter lag das Haus hinter einem dichten Bambushain. Sie erkannte es sofort an der durch das Grün der Büsche schimmernden weißen Farbe.
    Die Terrasse war eines Gärtners Traum, Paul teilte offenbar ihre Leidenschaft für Blumen: Überall blühten Rosen, Hibiskus, Geranien, rote, weiße und pinkfarbene Bougainvillea und ein wunderschöner Frangipanibaum. Die Pflanzen waren sorgfältig beschnitten, sie entdeckte keine welke Blüte, kein braunes Blatt in den Töpfen oder auf den rot-braunen Fliesen.
    Er hatte sie durch das Küchenfenster kommen sehen und öffnete die Tür.
    »Da sind Sie ja. Ich wollte gerade anfangen, mir Sorgen zu machen.«
    »War ich so langsam?«
    »Um Gottes willen, ich hatte nur Angst, Sie hätten sich verlaufen.«
    »Nein, Ihre Beschreibung war ausgezeichnet, aber der Anstieg war beschwerlicher, als ich dachte. Sie leben wirklich weit weg, fast wie im Exil.«
    »Einsam, aber nicht im Exil«, antwortete er und bat sie ins Haus. »Ich habe mich für eine Zeit ein wenig zurückgezogen.«
    »Ein wenig ist gut. Für wie lange haben Sie Ihren Rückzug geplant, wenn ich fragen darf?«
    Nun musste er lachen, und ihr fiel auf, dass sie ihn so noch nie gesehen hatte und wie gut ihm die Lachfalten um den Mund und die Augen standen. Wäre sie doch nur fünfzehn Jahr jünger. Oder wenigstens zehn.
    »Eine gute Frage. Ich weiß es nicht. Ich denke, ich werde merken, wenn die Zeit vorbei ist.«
    »Woran?«
    Er schaute sie nachdenklich an und ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Woran merken wir, dass die Zeit für etwas reif ist?«
    Elizabeth war nicht ganz sicher, ob er die Bemerkung an sie oder sich selbst richtete. Es war eine seltsame Frage, die sie sich noch nie gestellt hatte.
    »Indem man über etwas nachdenkt und dann entscheidet, ob es so weit ist«, antwortete sie.
    »Vielleicht. Aber bei mir hat das so noch nie funktioniert.«
    »Wie denn?«
    »Ich höre eher auf eine Art innere Stimme, kennen Sie die?«
    »Nein. Was meinen Sie damit?«
    »Ein Flüstern in Ihrem Kopf oder Ihrem Herzen, ganz weit hinten, das Ihnen in schwierigen Situationen sagt, was Sie tun müssen.«
    »Nein, ich wünschte, ich würde das manchmal hören«, antwortete sie mit einem verlegenen Lachen.
    »Dann ist es sehr schwer zu erklären. Sagen wir so: Ich bin mir sicher, ich werde spüren, wenn die Zeit gekommen ist, mich der Welt wieder mehr zuzuwenden.«
    »Das haben Sie in den vergangenen Tagen ja schon getan. Mehr als Ihnen lieb war, vermute ich.«
    Es sollte ein kleiner Scherz sein, aber Paul lachte nicht. Er legte sein Messer zur Seite und blickte ihr so direkt in die Augen, dass sie unruhig wurde.
    »Vielleicht haben Sie Recht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Vielleicht ist es an der Zeit.«
    »Sie haben es sich hier ausgesprochen schön gemacht«, sagte sie, bevor sein Blick sie noch unruhiger machen konnte. »Ihre Terrasse ist zauberhaft. Darf ich mich hier unten einmal umschauen? Ich bin schrecklich neugierig, verzeihen Sie.«
    »Macht nichts, ich koche einen Tee.«
    Sie ging ins Wohnzimmer, staunte darüber, wie schön alte chinesische Möbel aussehen konnten, und über die vielen frischen Blumen, die auf dem Tisch und den Fensterbänken standen. Es war so sauber, als hätten mehrere gewissenhafte Putzfrauen das Haus eben erst gründlichst gereinigt. Im Flur bemerkte sie kleine gelbe Gummistiefel. »Haben Sie Kinder, Herr Leibovitz?«, rief sie erstaunt.
    »Einen Sohn«, antwortete er aus der Küche.
    »Davon haben Sie nie etwas erzählt«, sagte sie und ging zu ihm. Er stand am Küchentresen, schälte eine Ingwerwurzel, zuckte mit den Schultern, als wäre das nicht der Erwähnung wert. »Wie heißt er?«
    »Justin.«
    »Ein ungewöhnlicher Name. Wie alt ist Justin?«
    Paul überlegte und blickte sie lange an, als könnte er in ihrem Gesicht das

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