Das Flüstern der Stille
klettern. Den bei der Lone Tree Bridge. Ich helfe dir hinauf, wie ich es immer tue, und du greifst nach einem Ast, deine Finger mit den abgeknabberten Nägeln weiß vor Anstrengung. Ich maule dich an, dass du dich beeilen sollst, weil ich nicht den ganzen Tag Zeit habe. Dann bist du oben, und ich schaue von unten zu. Jetzt ist es für dich einfacher zu klettern; die Äste sind dichter gewachsen, dicke, stabile Äste. Du kletterst höher und höher, bis ich nur noch deine knochigen Knie sehe, dann nur noch deine Turnschuhe. Ich rufe zu dir hinauf: „Du bist zu hoch, Calli, komm wieder runter! Du wirst fallen!“ Dann bist du weg. Ich kann dich nicht mehr sehen, und ich denke: Ich stecke in verdammten Schwierigkeiten . Dann höre ich eine Stimme zu mir herunterrufen: „Kletter rauf, Ben! Das musst du sehen! Komm schon, Ben, komm endlich!“
Und ich weiß, dass du es bist, die ruft, auch wenn ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wie deine Stimme eigentlich klingt. Du rufst und rufst, und ich kann nicht klettern. Ich will es, aber ich erreiche nicht einmal den untersten Ast, er ist zu hoch. Ich rufe zurück: „Warte auf mich! Warte auf mich! Was siehst du, Calli?“
Dann bin ich aufgewacht, schweißgebadet. Kein heißer Schweiß, sondern kalter, bei dem einem der Kopf wehtut und sich der Magen zusammenzieht. Ich habe versucht, wieder einzuschlafen, konnte es aber nicht.
Nun bist du irgendwohin verschwunden, und ich fühle mich verantwortlich, so als wäre es meine Schuld. Für eine kleine Schwester bist du ganz in Ordnung, aber du bist auch eine große Verantwortung. Ich muss immer auf dich aufpassen. Erinnerst du dich, als ich zehn war und du fünf? Mom wollte, dass wir gemeinsam zur Bushaltestelle gehen. Sie sagte: „Pass auf Calli auf, Ben.“ Und ich hab „okay“ gesagt, aber ich hab’s nicht wirklich gemacht, zumindest am Anfang nicht.
Ich war gerade in die fünfte Klasse gekommen und viel zu cool, um Babysitter zu spielen. Bis zum Ende der Auffahrt habe ich deine Hand gehalten, genau bis zu der Stelle, wo Mom uns aus dem Küchenfenster nicht mehr sehen konnte. Dann hab ich deine Hand abgeschüttelt und bin so schnell zur Bushaltestelle gelaufen, wie ich konnte. Ich habe mich ab und zu umgeschaut, ob du auch hinterherkommst. Eins muss ich dir lassen, du bist mit deinen dünnen Kindergartenbeinen unglaublich gerannt, und dein brandneuer pinkfarbener Rucksack hüpfte auf deinen Schultern, aber du konntest nicht mit mir mithalten. Vor dem Haus der Olsens bist du über den alten Riss im Bürgersteig gestolpert und der Länge nach hingeschlagen.
Fast wäre ich zu dir zurückgelaufen, wirklich. Aber dann kam Raymond vorbei, und ich bin doch nicht umgekehrt. Hab’s einfach nicht gemacht. Als du endlich an der Bushaltestelle angekommen bist, fuhr auch schon der Bus vor, und deine Knie waren ganz blutig; und die dunkelrote Haarspange, die Mom dir in die Haare gemacht hatte, hing nur noch an einer dünnen Strähne. Du hast dich einfach durch alle Kinder in der Warteschlange durchgedrängelt, um dich neben mich zu stellen, und ich habe so getan, als wärst du gar nicht da. Als wir eingestiegen sind, habe ich mich zu Raymond gesetzt. Du hast im Gang gestanden und darauf gewartet, dass ich ein wenig zur Seite rücke und Platz für dich mache, aber ich habe dir den Rücken zugedreht und mich mit Raymond unterhalten. Die Kinder hinter dir fingen an zu rufen: „Beeil dich!“ und „Setz dich!“, also bist du endlich in die Sitzreihe gegenüber von Raymond und mir geglitten. Ganz eng ans Fenster gedrückt hast du dagesessen, die Beine zu kurz, um den Boden zu berühren, ein kleines blutiges Rinnsal floss dein Schienbein hinab. Du hast mich den ganzen Tag und Abend nicht mehr angeschaut. Sogar nach dem Essen, als ich dir angeboten habe, eine Geschichte vorzulesen, hast du nur mit den Schultern gezuckt und mich allein am Küchentisch sitzen lassen.
Ich weiß, dass ich an dem Tag ziemlich gemein zu dir war. Aber am ersten Schultag der fünften Klasse ist es für einen Jungen verdammt wichtig, einen guten Eindruck zu machen. Ich habe versucht, es wiedergutzumachen. Falls du es nicht wusstest: Ich war es, der dir an diesem Abend die Bonbons unter das Kopfkissen geschoben hat. Es tut mir leid, dass ich in diesen ersten Wochen nicht auf dich aufgepasst habe. Aber du weißt, wie es ist, wenn einem etwas leidtut und man nicht die richtigen Worte findet, um zu sagen, was man sagen will.
Calli
Griff saß mit dem
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