Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
I
Barcelona
Versöhnungskirche Sagrada Familia
Montag, 7. Juni 1926
A ntonio Gaudí verbrachte den ganzen Tag in seinem großen Atelier, in das durch eine Glaskuppel Tageslicht fiel. Auf einer hölzernen Estrade hatte er sein Zeichenbrett aufgestellt sowie ein Fotolabor eingerichtet. In einem großen Nebenraum stand ein maßstabsgerechtes Modell der Kathedrale Sagrada Familia; außerdem hingen dort mehrere Versuchsmodelle von der Decke. Diesen Ideenfriedhof nannte sein Modellbauer und Freund Lorenzo Matamala »die Schlangengrube«.
Über das Haus im Park Güell hatte sich nach dem Tod von Gaudís Vater Francisco und seiner Nichte Rosa Egea eine trübselige Stimmung gelegt. Er war jetzt allein; lediglich zwei Karmeliterinnen kamen einige Male in der Woche, um ihm die Wohnung sauber zu halten und die Wäsche zu waschen. Sein Freund, der Bischof Torres y Bages, war 1916 gestorben, und zwei Jahre später war ihm Gaudís Mäzen Eusebio Güell gefolgt. Ohne Angehörige und enge Freunde beschäftigte sich Gaudí nunmehr ausschließlich damit, sein Hauptwerk zu vollenden, die Sagrada Familia . Wegen seiner Einsamkeit und der großen Entfernung zwischen der Sagrada Familia und dem Park Güell war er im Herbst 1925 in den unfertigen Kirchenbau übergesiedelt und hatte sich dort Arbeitsräume eingerichtet. Dort schlief er nachts auf einer hölzernen Pritsche in einer kleinen Kammer, die ein einfacher Vorhang von den anderen Räumen abtrennte.
Er hatte nahezu den ganzen Tag ununterbrochen gearbeitet und strich sich jetzt mit einer erschöpften Geste über die kurzen grauen Haare. Da seine arthritischen Finger den Bleistift kaum noch halten konnten, fiel ihm das Zeichnen von Plänen täglich schwerer. Auch wenn der Tag hektisch gewesen war, bedeutete er zugleich das Ende der Sorge, die ihn schon seit Jahren quälte. Endlich war es ihm gelungen, das Versprechen einzulösen, das er einst dem Vater gegeben hatte, nämlich das Geheimnis seiner Familie zu bewahren. Damit war nach Jahrhunderten der Auftrag ausgeführt, den Gott einst den Gaudís erteilt hatte.
Der düstere Abend des Jahres 1894, an dem ihm der Vater dieses Geheimnis anvertraut hatte, hatte dem Leben des damals Zweiundvierzigjährigen eine gänzlich neue Richtung gegeben. Noch jetzt erinnerte er sich so deutlich daran, als läge das Ganze erst wenige Minuten zurück. Seither war er oft wie ein Mystiker des Mittelalters geradezu in Ekstase verfallen, wobei ein seltsam begeisterter Glanz in seine leuchtend blauen Augen zu treten pflegte.
Sein Auftrag als Architekt Gottes verlangte von ihm, eine Kirche zum Ruhm des Höchsten zu errichten und dabei den unbehauenen Stein, das Chaos, in einen Triumph des Schöpfers zu verwandeln, aus den im Steinbruch des Montjüic gebrochenen Blöcken eine Lobpreisung Gottes, der Allumfassenden Ordnung, zu schaffen. Das fortwährende Hämmern der Arbeiter, das wie das Echo eines fernen Gemurmels zu ihm hereindrang, wurde in seinen Ohren zum Gesang eines Engelschores. Dank all dieser Hammerschläge nahm der Bau nach und nach Gestalt an. Die Geburtsfassade war vollendet, und schon bald würde sie farbig gefasst werden, ganz wie einst die Fassaden der romanischen und gotischen Kirchen.
Er beendete die Entwurfsskizze einer Glocke und legte den Stift auf das Zeichenpapier. Monate hatte er damit zugebracht, die vierundachtzig Glocken, die ihren Platz in den Türmen finden sollten, so zu gestalten, dass sie voll Wohlklang wie mit einer einzigen Stimme ertönten. Er fuhr sich mit den Fingern durch den weißen Bart, zog den Arbeitskittel aus und strich sich mechanisch die Jacke glatt. Dann warf er einen letzten Blick auf das Zeichenbrett, als hätte er etwas vergessen. Vor sich sah er Pläne, Entwürfe und Darstellungen biblischer Szenen sowie eine Ausgabe der Werke des von ihm zutiefst verehrten französischen Architekten Viollet-le-Duc … Ermattet stieß er einen Seufzer aus und löschte das Licht einer Lampe mit tulpenförmigem Glasschirm.
»Vicente«, sagte er, als er sich von seinem Mitarbeiter verabschiedete, »komm morgen zeitig, es gibt spannende Dinge zu tun.«
»Geht Ihr schon, Meister?«
»Ja«, gab Gaudí zurück und rieb sich die brennenden Augen. »Für heute ist es genug.«
Er musste sich auf einen Stock stützen, um das Gleichgewicht zu halten. Er war nicht mehr der Jüngste – in zwei Wochen würde er seinen vierundsiebzigsten Geburtstag feiern. Vor der Tür blieb er einige Augenblicke stehen, um zu
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