Das Flüstern der Stille
unsicher klingende Stimme passte nicht zu der Entschlossenheit, die sie in seinem Blick sah. Sie kannte ihn.
Er hatte sich auf dem höchsten Punkt des Felsens niedergelassen, wo die Bäume lange, düstere Schatten warfen, und alle paar Minuten fegte eine Böe über seine sonnenverbrannte Stirn und lüftete für einen Moment sein Haar. Ein tiefes Tal, ein Becken voll üppigem Grün und Honiggelb, lag wie eine Decke weit hinter ihm. Callis Blick wanderte zu Petras Fingern, die kurz zuckten.
„Sie ist zu schwer, ich muss sie absetzen.“ Vorsichtig legte er Petra auf den Boden, hielt ihren Kopf mit den Händen, als er sie auf den altarähnlichen Felsen bettete. Dann stand er wieder auf, schüttelte seine Arme aus, die nun von Petras Gewicht befreit waren.
„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte er. „Alleine würde ich das nicht schaffen.“ Er sah Calli an, versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. „Wenn wir uns beeilen, können wir sie nach unten und ins Krankenhaus bringen. Sie ist schwer verletzt. Sie ist gestürzt“, fügte er hinzu.
Die Klippe, auf der er stand, fiel direkt hinter ihm steil ab und endete in der rauen, moosbedeckten Wand einer Schlucht.
„Bitte“, flehte er. „Ich fürchte, sie stirbt, wenn wir sie nicht von hier wegbringen.“ Sein Kinn zitterte, und in seinen Augenwinkeln schienen sich Tränen zu sammeln.
Unsicher trat Calli einige Schritte vor, wobei sie ihn nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Er streckte eine Hand aus, um ihr auf den zerbröckelnden Stein zu helfen. Kleine Stücke brachen ab, als sie versuchte, mit ihren Zehen Halt zu finden. Seine Hand, weich und kühl, umfasste ihre, und sie fühlte, wie sie angehoben wurde; das beunruhigende Gefühl, in der Luft zu hängen, flatterte durch ihren Magen. Sein Griff wurde fester, und Furcht erfasste sie. Ein Fehler, dachte sie, ich hätte weglaufen sollen. Vergebens versuchte sie, ihre Hand wegzuziehen.
Sie hörte es vor ihm. Der Schlag von Flügeln, langsam und bedächtig, gefolgt von einem lang gezogenen, heiseren Schrei, beinah wie ein Lachen. Sie fühlte den Luftzug in ihrem Nacken, als er über sie hinwegflog. Er war riesig, der größte Vogel, den Calli je gesehen hatte, so schwarz, dass er beinah bläulich wirkte, seine Flügel so weit ausgebreitet, dass sie fast so breit waren wie Calli groß. Der Mann strauchelte, als der große schwarze Vogel seine Schulter streifte und dabei einen dunklen Schatten über sein Gesicht warf, auf dem Angst und Abscheu tanzten, während er Callis Hand losließ. Sie fiel rückwärts und knallte auf den Boden, war für einen Moment verwirrt, schaute in einen blauen Himmel, der mit rosafarbenen Pinselstrichen verziert war, wie man sie auf der Unterseite von Tellerkrautblüten findet, die sich zu Beginn des Frühjahrs entfalten. Als sie sich aufsetzte und vorsichtig umschaute, konnte sie ihn nirgendwo entdecken.
Sie beeilte sich, auf den Stein zu klettern, auf dem Petra lag, und schaute dann über den Felsrand hinunter in den Abgrund. Dann krabbelte sie zu Petra hinüber, die sich kurz bewegte. Ihre Augen flatterten, dann schaute sie Calli an.
„Mommy“, stöhnte Petra.
Calli legte eine schmutzige Hand auf Petras Stirn, nickte ihr zu und tätschelte ihren Arm. Sie drehte sich in jede Richtung, hielt nach ihm Ausschau. Er war weg, aber sie hatte ihn schon einmal gesehen, sie kannte ihn, er hatte einen seltsamen Namen und einen Hund. Er war irgendwo da draußen, vielleicht beobachtete er sie. Sie krabbelte zurück ins Gebüsch und versteckte sich.
Calli blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück.
„Lucky“, sagte sie nur zu ihrem Bruder, sprach für ihre Freundin, die immer für sie gesprochen hatte. „Es war Lucky.“
Ben
Ich glaub es nicht, Calli, du hast es tatsächlich getan. Du hast die Geschichte zu Ende erzählt, und ich weiß, dass es für dich nicht einfach war. Ich bin überrascht, dass es nicht Dad war, sondern der Student von Mr. Gregory, der Petra in den Wald gelockt und ihr all die schlimmen Dinge angetan hat. Ich frage mich, ob Dad mir jemals verzeihen wird, dass ich ihn verdächtigt habe. Aber er hat so schuldig ausgesehen, und immerhin hat er dich in den Wald gezerrt. Ich weiß nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll. Ich meine, für einen Zwölfjährigen habe ich ihn ganz schön verprügelt. Mom ist immer noch nicht zurück mit deinen Sachen, und ich bin einfach nur müde. Aber heute Nacht gibt es für uns keinen Schlaf. Die Polizei kommt und bittet
Weitere Kostenlose Bücher