Das Flüstern der Toten (German Edition)
Handhabe, deinen Bekannten an den Apparaten zu lassen.«
»Du bist extra deswegen hergefahren? Mir zuliebe?«
»Ja, ja«, nickte er und zupfte unbehaglich an seinem Kragen. »Ich nahm an, das Mindeste, das ich tun könnte, wäre, hier zu sein, wenn sie deinen Bekannten von den Geräten abstöpseln. Doch als ich ankam, ging es hier drunter und drüber. Er war weg.«
»Weg?«, quiekte ich. »Wohin weg?«
Wieder beugte er sich vor und flüsterte drängend: »Nicht einfach weg, Charley, vom Erdboden verschwunden.«
»Ich verstehe nicht. Ist er geflohen?«
»Am besten machst du dir selbst ein Bild.«
Wir hasteten durch den Haupteingang in eine kleine Wachstube.
»Zeigen Sie’s ihr«, wies er den Wachmann an, der ihm sofort gehorchte.
Während der Wachmann kurz auf seiner Tastatur tippte, fragte ich: »Was ist das?«
»Schau’s dir einfach an«, sagte Ubie.
Auf dem Monitor waren Aufnahmen einer Überwachungskamera zu sehen. Ich erkannte den Bereich. »Ist das vor Reyes’ Zimmer?«
»Sieh hin«, befahl er ebenso rätselhaft wie ärgerlich.
Dann bewegte sich etwas. Ich beugte mich vor. Reyes’ Zimmertür stand offen, die Schwarzweißaufnahme zeigte, was dahinter vorging. Allerdings war die Auflösung so niedrig, dass man vieles nur unscharf sah, doch Reyes war deutlich zu erkennen. Und er war wach. Er lag ruhig, als wolle er sich orientieren, holte tief Luft, wandte sich dann in Richtung Kamera und lächelte. Er lächelte! Ein boshaftes, schiefes Grinsen, bei dessen Anblick ich weiche Knie bekam.
Dank einer Bildstörung gab es zuerst Schnee, dann wurde der Monitor für den Bruchteil einer Sekunde schwarz, und als das Bild zurückkehrte, war Reyes nicht mehr zu sehen. Binnen einer Sekunde verschwunden. Eben noch da, dann wie vom Erdboden verschluckt, das Bett in Unordnung und verwaist.
»Wo ist er hin?«, erkundigte ich mich bei dem verständnislosen Wachmann, der nur mit den Schultern zuckte.
»Ich hatte gehofft, das könntest du uns sagen«, sagte Onkel Bob.
Reyes kam zweifellos aus einer anderen Welt, aber dass ein Menschenleib entmaterialisierte war einfach nicht drin. Zumindest wusste ich nichts darüber. Allerdings hatte ich mir bis vor ein paar Stunden auch nicht vorstellen können, dass Satan einen leiblichen Sohn hatte. »Onkel Bob«, druckste ich, »ich habe dir wirklich nicht alles gesagt.«
»Sieh mal an.« Onkel Bob bedeutete dem Wachmann, uns alleine zu lassen.
Als er weg war, sagte ich: »Es ist so … äh … ich habe dir noch nie die volle Wahrheit gesagt.«
»Was soll das heißen?«, fragte er noch verwirrter als zuvor.
»Dass ich anders bin, weißt du ja. Aber ich habe dir nie verraten, wie anders ich wirklich bin.«
»Okay«, gab er betont argwöhnisch zurück. »Und wie anders bist du?«
Ich hatte keinen Schimmer, ob irgendwem damit gedient sein würde, wenn ich Onkel Bob erklärte, dass ich die Schnitterin und Reyes der Sohn des Teufels war. Manches blieb besser ungesagt.
»Sagen wir, ich unterscheide mich mehr von anderen Menschen, als du weißt, und dass, ja, ein Teil von Reyes tatsächlich über-übernatürlich ist.«
»Welcher Teil?«
»Äh, der über-übernatürliche Teil.«
»Das genügt mir nicht, Charley«, ermahnte er mich und trat näher. »Das musst du mir schon genauer erklären.«
Ich ließ mich mit steifem Rücken und zusammengebissenen Zähnen auf der Stuhlkante des Wachmannes nieder. Mir ging ständig dasselbe Wort im Kopf herum. Scheibenkleister . Wie um alles in der Welt sollte ich ihm die Entstofflichung eines Menschen erklären? Falls es sich überhaupt darum handelte?
In dem Moment kam Neil Gossett herein. Sein Blick erfasste zuerst mich und wanderte dann schuldbewusst weiter zu Onkel Bob, als würden wir ein Geheimnis teilen. Was wir ja auch taten. Er kannte bloß nicht sämtliche Einzelheiten.
»Mr Gossett«, sagte Onkel Bob und streckte ihm die Hand hin.
»Detective«, sagte Neil, während sie einander die Hände schüttelten. »Gibt’s was Neues?«
Onkel Bob sah wieder mich an. »Nichts Besonderes.«
Ubie und Neil wussten beide genug, um mir gefährlich werden zu können, aber keiner von beiden wusste alles. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wie lange ich ihre Neugier noch in Schach halten konnte. Schon jetzt hatte ich im Verlauf einer Woche mehr preisgegeben als in meinem ganzen Leben. Während ich mich dadurch einerseits entlastet fühlte, war es andererseits sehr riskant, so vielen Menschen Einblick in meine Welt zu gewähren. Ich hatte
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