Das Flüstern der Toten (German Edition)
Sussman III. endlich doch noch durchdrehte.
»Oh, großer Gott. Er … schwebt.«
Es sind oft die einfachen Dinge im Leben … Sie wissen schon.
Die Dusche fühlte sich an wie der Himmel mit warmer Schokosoße. Während ich Körperinventur machte und jeden Muskel, der wehtat, im Geiste mit einem Sternchen versah, war ich in Ströme von Dampf und Wasser gehüllt.
Mein linker Oberarmmuskel brauchte, was mich nicht wunderte, definitiv ein Sternchen. Das Arschloch in der Bar hatte mir gestern Abend den Arm verdreht, in der klaren Absicht, ihn mir auszureißen. Manchmal musste man sich als Privatdetektivin mit gesellschaftlich weniger angesehenen Figuren herumschlagen, zum Beispiel mit dem ausfälligen Ehemann einer Klientin.
Als Nächstes nahm ich mir meine rechte Seite vor. Ja, die tat auch weh. Sternchen. Das war bestimmt passiert, als ich gegen die Musicbox geknallt war. Diskretion und Eleganz sind nicht so mein Ding.
Linke Hüfte. Sternchen. Keine Ahnung, wieso.
Linker Unterarm. Doppelsternchen. Das war höchstwahrscheinlich passiert, als ich den Schlag des Arschlochs abgeblockt hatte.
Blieben natürlich noch die linke Backe und die linke Kinnseite. Vierfachsternchen. Hier hatte ich völlig erfolglos abgeblockt. Das Arschloch war einfach zu kräftig und zu flink gewesen, und der Schlag war so unerwartet gekommen. Ich war zu Boden gegangen wie ein betrunkenes Cowgirl beim Line Dance.
Peinlich? Klar. Aber irgendwie auch seltsam erhellend. Ich war noch nie bewusstlos geschlagen worden. Ich hätte mit größeren Schmerzen gerechnet. Aber komischerweise kommt der Schmerz, wenn man ausgeknockt wird, erst später. Dann allerdings gnadenlos.
Trotzdem hatte ich den Abend ohne bleibende Schäden überstanden. Was immer gut war.
Während ich wenigstens die Schmerzen im Nacken wegzumassieren versuchte, kehrten meine Gedanken zu dem Traum zurück, den ich jetzt seit einem Monat jede Nacht hatte. Und es erwies sich von Mal zu Mal als schwieriger, nach dem Aufwachen die Erinnerung daran, das Gefühl der Berührungen und die nebelhafte Begierde abzuschütteln. Jede Nacht erschien mir im Traum ein Mann aus den dunkelsten Winkeln meines Geistes, als hätte er darauf gewartet, dass ich endlich einschlief. Sein voller, männlicher Mund versengte mich. Seine Zunge, die wie Flammen über meine Haut züngelte, entfachte einen Funkenregen, unter dem mein Körper erschauerte. Wenn er sich schließlich meinen Südpol vornahm, taten sich sämtliche Himmel auf und Engelschöre stimmten in perfekter Harmonie ein Halleluja an.
Der Traum begann unspektakulär. Ein Kuss. Leicht wie Luft. Ein Lächeln, das ich nur am Rande des Negativraums sehen konnte. Schönheit, wo ich sie niemals vermutet hätte. Dann verwandelte sich der Traum, wurde kraftvoller, beängstigend intensiv. Und zum ersten Mal im Leben kam ich tatsächlich im Schlaf. Und das nicht bloß einmal. Im letzten Monat war ich häufig gekommen, genau genommen in den allermeisten Nächten. Und das dank der Hände – und anderer Körperteile – eines Traummannes, den ich nicht mal vollständig erkennen konnte. Doch ich wusste, dass er der Inbegriff von Sinnlichkeit und männlicher Anziehungskraft war. Außerdem wusste ich, dass er mich an irgendwen erinnerte.
Ich nahm an, dass jemand in meine Träume eindrang. Bloß wer? Ich konnte die Verstorbenen schon mein ganzes Leben lang sehen. Immerhin war ich schon als Schnitterin zur Welt gekommen. Als die Schnitterin sogar, auch wenn mir diese Besonderheit erst auf der Highschool klar geworden war. Trotzdem waren noch nie Verstorbene in meine Träume eingedrungen und hatten mir einen Schauder nach dem anderen durch den Körper gejagt, bis ich mich – ich gebe es zu – so weit erniedrigte, nach mehr zu betteln.
An meinen Fähigkeiten ist eigentlich nichts Besonderes. Die Verstorbenen existieren auf einer Ebene und die Menschen auf einer anderen, und irgendwie – ob durch einen irren Zufall, göttliche Intervention oder seelische Verwirrung – existiere ich auf beiden Ebenen. Vermutlich ein Privileg der Schnitterin. Im Grunde ist alles ganz einfach. Keine Trance. Keine Kristallkugeln. Kein Fluss, auf dem die Toten von einer Welt in die andere ziehen. Nur ein Mädchen, eine Handvoll Geister und die Menschheit. Was konnte einfacher sein?
Und doch, er war mehr als das, kein … Toter. Zumindest kam es mir so vor. Die Person in meinem Traum strahlte Wärme aus. Tote jedoch sind kalt, genau wie im Kino. Bei ihrem Erscheinen steht einem
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