Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
»Unmöglicher geht es wohl kaum!«
Das also sind meine neuesten Kriminalgeschichten, die ich meinen geneigten Lesern anempfehle. Die meisten unterscheiden sich ein wenig von den Schwester-Fidelma-Geschichten, die der Mehrzahl von ihnen bereits vertraut sind, aber ich hoffe, die vorliegende Lektüre erweist sich als ebenso vergnüglich.
Peter Tremayne
Die Freistatt
»Fidelma! Hast du einen Moment Zeit?«
Es war die Stimme des
ard-ollamh
, des Rektors, die Fidelma hinter sich vernahm, als sie den Hof der Hohen Schule für Recht überquerte. Sie drehte sich um, blieb stehen und sah Brehon Morann mit einem verunsicherten Lächeln entgegen. Sechs Jahre lang hatte sie an der berühmten Schule für Rechtswesen studiert und mit ihrer jüngst abgelegten Prüfung den Grad einer
c lí
erworben. Mit dem durfte sie schon jetzt an den meisten Gerichten im Lande wirken, wenngleich mit gewissen Einschränkungen. Nun strebte sie danach, eine voll befugte Anwältin zu werden, die auf allen Gebieten der Rechtsprechung tätig werden konnte, in der Verteidigung wie der strafrechtlichen Verfolgung, und das bedeutete ein Studium von mindestens zwei weiteren Jahren.
Trotz der bereits erworbenen Qualifikationen hatte sie immer noch eine heilige Ehrfurcht vor der herausragenden Persönlichkeit des Vorstehers der Lehranstalt.
»Wenn ich vom Ollamh Neit richtig unterrichtet bin, hast du dich bei ihm eingehend mit den Vorschriften über das Asylrecht befaßt«, war das erste, was Brehon Morann sagte, als er sie erreichte.
»Das stimmt«, erwiderte sie argwöhnisch.
»Großartig. Dann begleitest du mich sicher gern in mein Zimmer, wo mir ein Besucher ein paar Fragen stellen möchte. Offensichtlich braucht er unseren Rat just zu diesem Thema.«
»Zu Fragen des Asylrechts will er dich konsultieren?« fragte Fidelma und bemerkte erst im Nachhinein, dass sich ihre Äußerung erübrigte. Brehon Morann war kein Freund von Wiederholungen, und so fühlte er sich auch nicht bemüßigt, ihr zu antworten. Sie neigte leicht den Kopf. Vom Rektor auserwählt und zu sich gebeten zu werden war eine Ehre. »Es freut mich, dich begleiten zu dürfen«, fügte sie rasch hinzu.
In Brehon Moranns Zimmer wartete ein hochgewachsener Mann von angenehmen Äußerem mit sandfarbenem Haar; Kleidung und sonstige Ausstaffierung ließen auf eine Person von Rang und Namen schließen.
»Adnaí, mein Verwalter, hat mich wissen lassen, dass du Faichen Glas, ein
aire-deise
der Uí Echach Cobo bist«, begrüßte ihn Brehon Morann.
Aus den an den Gast gerichteten Worten entnahm Fidelma, dass es sich um einen nicht gerade unbemittelten Adligen handelte und dass er zu einem Stamm im nördlichen Königreich von Ulaidh gehörte.
Der Rektor stellte Fidelma vor und bat sie und den Gast, sich zu setzen.
»Was führt dich zu uns, Faichen Glas?«, fragte er.
»Ich ersuche dich um deinen Rat, Brehon Morann. Seit einer Woche bin ich einem Mörder hinterher, einem Mann, der meinen Vetter umgebracht hat. Ich habe geschworen, ihn aufzuspüren und ihn vor unser Stammesgericht zur Aburteilung zu bringen. Bisher konnte ich seiner nicht habhaft werden. Zwar weiß ich jetzt, wo er steckt, keinen Tagesritt entfernt von hier. Doch habe ich mich belehren lassen müssen, dass er Zuflucht in einer Kapelle gefunden hat, und der Priester dort erklärt, er genieße den Schutz der Freistätte. Ich hätte gern von dir gewußt, was mir zu tun bleibt.«
Seufzend lehnte sich Brehon Morann zurück.
»Die Gesetze des Fénechus, unseres Regelwerks, beinhalten strikte Festlegungen, wie bei Gewährung von Zuflucht zu verfahren ist; und die wurden getroffen, lange bevor mit dem Neuen Glauben die Auffassung der Freistatt dazukam.« Er machte eine Pause. »Vielleicht schilderst du uns deine Geschichte erst etwas genauer, und wir kommen dann auf die rechtlichen Grundlagen zurück. Wer genau ist der Mörder, den du suchst?«
Der Mann verzog verächtlich das Gesicht.
»Ulam Fionn heißt er, ist Viehtreiber ohne ihm zugewiesenen Landbesitz. Er steht seit langem im Verdacht, von den Bauern meines Stammes Kühe zu stehlen. Erwischt hat man ihn nie, nur beobachtet, dass er auf den Märkten gute Geschäfte macht. Doch woher er das Vieh hatte, das er dort verkaufte, konnte ihm niemand nachweisen. Vor neun Tagen nun wurden mein Vetter Nessán und seine Frau in der ersten Morgendämmerung von dem Muhen ihrer Kühe geweckt. Mein Vetter ging hinaus um nachzusehen, was die Tiere beunruhigte und erwischte den
Weitere Kostenlose Bücher