Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Dieb auf frischer Tat. Der aber fiel über ihn her, erschlug ihn und machte sich davon.«
Fidelma hüstelte, und Brehon Morann schaute sie an.
»Du hast eine Frage?«
»Woher will man wissen, dass der Mann Ulam Fionn war, wenn dein Vetter erschlagen wurde, und der Täter floh?«
»Das lässt sich leicht beantworten. Die Frau meines Vetters war Zeugin der unheilvollen Tat.«
»Ist sie die einzige Zeugin?«
»Außer ihrem Mann hat nur sie Ulam Fionn gesehen.«
»Und wie kommt es, dass ihr nichts geschehen ist?«
Mit der Frage wußte Faichen Glas nichts anzufangen und zog die Stirn in Falten.
Brehon Morann half ihm, Fidelmas Gedankengang nachzuvollziehen. »Wenn sie die einzige Zeugin war, wäre es nicht verwunderlich, wenn dieser Ulam Fionn sie gleichfalls mundtot gemacht hätte – Grabesschweigen wäre für ihn das sicherste gewesen.«
»Ihren Worten nach hat der Mörder sie nicht gesehen. Sie war im Haus und hat die Tat vom Fenster aus verfolgt, war aber so entsetzt und in Angst und Schrecken, dass sie sich nicht heraustraute, bevor der Mann verschwand.«
»An der Identifikation des Mannes besteht kein Zweifel? Sie hat ihn eindeutig als Ulam Fionn erkannt?«
»Ja, daran gibt es nichts zu rütteln«, versicherte Faichen Glas. »Und seine Flucht spricht für seine Schuld. Neun Tage lang verfolge ich ihn nun schon, um ihn meinem Oberrichter vorzuführen.«
Brehon Morann überlegte.
»Du sagst, er hätte Zuflucht in einer Kapelle gesucht? Wie hast du ihn ausfindig gemacht?«
»Wir wussten, dass er einen Vetter namens Ulpach hat, und der wohnt in der Gegend dort. Ich kenne den Mann nicht, aber es hieß, dass von der moralischen Haltung her einer genauso schlimm wie der andere sei. Daraus schlussfolgerte ich, dass Ulam Fionn vielleicht Zuflucht bei diesem Ulpach gesucht hätte, aber am Ende habe ich weder den einen noch den anderen gefunden. Einem Schäfer, dem ich begegnete, wollte ein Gerücht zu Ohren gekommen sein, wonach jemand bei einem frommen Bruder in der Kapelle des heiligen Benignus um Schutz gebeten hätte.«
»Das ist ungefähr ein Halbtagesritt von hier«, meinte Brehon Morann. »Der fromme Bruder, der die Kapelle verwaltet, ist mir unbekannt. Er muss ziemlich neu dort sein.«
Faichen Glas nickte.
»Ich bin dort hingeritten. Bruder Mongan, wie er heißt, bestätigte mir, dass er Ulam Fionn Freistatt gewährt hätte. Und nun bin ich hier, verehrter Brehon, und brauche deinen weisen Rat, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, die es mir erlaubt, den Mörder aus dem Schutzort zu holen und ihn in Ulaidh vor Gericht zu stellen.«
Brehon Morann schwieg einen Moment, ehe er sich mit einem auffordernden Lächeln an Fidelma wandte.
»Meine junge Kollegin hier wird dir die üblichen Gepflogenheiten, wie sie für eine Freistatt gelten, darlegen.«
Fidelma errötete; als Kollegin des hochangesehenen Rektors bezeichnet zu werden, war schmeichelhaft. Etwas zögernd begann sie: »Unsere Gesetzgebung sieht für Flüchtlinge, die Zuflucht suchen, eine Freistatt vor. Die Regeln des Neuen Glaubens kommen diesbezüglich unseren Vorstellungen ziemlich nahe. Gelehrte, die durch fremde Lande gezogen sind, haben festgestellt, dass fast überall nach den gleichen Vorstellungen verfahren wird.«
Faichen Glas wurde sichtlich ungeduldig ob der langen Einleitung, doch Brehon Morann bedeutete ihm stirnerunzelnd, Fidelma nicht zu unterbrechen.
»Unser Gesetz sieht einen Bezirk vor, den wir
maigen
nennen, einen Bereich um die Wohnstatt eines beliebigen Stammesfürsten herum, in dem ein Flüchtling um Asyl ersuchen kann. Die Ausmaße des Bereichs richten sich danach, ob es sich um den Hof eines Sippenältesten handelt, dann gilt ein Umkreis von einem Speerwurf, oder um den Sitz des Stammesfürsten eines ganzen Clans, dann wird ein Bereich von vierundsechzig Speerwürfen vom Haupthaus als
maigen
angesehen. Dort ist ein Flüchtender vor einem jeglichen, der ihm etwas antun will, geschützt.
Der Neue Glaube nun hat es mit sich gebracht, dass Abteien, Kirchen und Klöster den gleichen Regeln folgen, wie sie bei uns im
maigen
des Stammesfürsten gelten. Die Freistätte des Flüchtlings ist auf einen Bereich beschränkt, den sie Termonn-Land nennen.« Sie wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Lehrer und erläuterte: »Das Wort ist aus dem Lateinischen entlehnt, von
terminus
abgeleitet, was in etwa Begrenzung beziehungsweise Ausmaß der Kirchenländereien heißt. Sollte es vorkommen, dass jemand in diesen Gebieten einen
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