Das Flüstern des Windes (German Edition)
zu anderen Menschen, deren Zeigefinger sich aus drei unterschiedlich langen, durch Sehnen miteinander verbundenen Knochen zusammensetzten, bestand sein Zeigefinger, und der aller anderen männlichen Nachkommen seines Hauses, aus einem einzigen vergrößerten Knochen, der dem Finger zwar die gleiche äußere Form wie den anderen gab, ihn aber absolut unbeweglich machte. Die Ärzte sprachen in diesem Zusammenhang von einem harmlosen Erbschaden, aber sie wussten nicht, was es für eine Schwierigkeit war, ohne den Zeigefinger zu schreiben oder ein Schwert führen zu lernen.
Der Säugling hatte seine Grabschversuche inzwischen aufgegeben und erwiderte ruhig die Blicke seines Vaters. Eine Welle der Liebe und Zuneigung durchströmte den König, als er in die klugen Augen des Kindes blickte.
»Habt Ihr schon einen Namen für ihn ausgewählt?«, fragte die Amme.
»Ja, er soll Larin heißen.«
Die Frau nickte zustimmend. ‘Larin’ war das thuuranische Wort für das Licht, das zwischen dem Dunkel der Nacht und dem Glanz des Tages herrschte. Es galt als Schicksalslicht, das von den Göttern gesandt wurde.
»Ein weiser Name!«, bestätigte Esther. »Er wird diesem Namen gerecht werden!«
»Wenn er alt genug wird ...«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Kinderzimmers und Fürst Canai betrat den Raum. Die Amme wollte sich verbeugen, aber der Bruder des Königs winkte ab.
»Lass das, Esther. Deine Mutter hat mich gewickelt, und wir beide haben miteinander gespielt.«
Die Frau senkte trotzdem den Kopf. »Ihr seid ein Fürst und ich nur eine Dienerin.«
Canai streckte eine Hand aus und hob ihr Kinn sanft an. Seine Augen blickten freundlich. »Du bist viel mehr als das! Du gehörst zur Familie!«
»Aber ...«
»Still jetzt! Wie geht es meinem Neffen?«
Die Amme lachte laut auf. Ein Strahlen glitt dem Mann entgegen, der seit der Nacht, in der die Herrscherin gestorben war, jeden Tag kam, um nach dem Kind zu sehen.
»Es geht ihm gut, Herr. Er wird einmal ein großer Krieger werden, würdig der Aufgabe, die auf ihn wartet.«
Canais Augen verdunkelten sich kurz, aber dann schimmerten sie wieder fröhlich.
»So wird es sein!«, bestätigte er.
Er wandte sich an den König. »Du musst sehr stolz sein.«
Der König nickte stumm. Sein Blick wirkte in der Ferne verloren. »Ich mache mir Sorgen um den Prinzen. Alle männlichen Knaben vor ihm starben schon im Kindbett. Auch wenn mir die Ärzte immer wieder versichern, es wären natürliche Ursachen und normale Krankheiten gewesen, die zu ihrem Tod geführt haben, glaube ich, dass es einen Verräter am Hof gibt.« Seine Miene wurde hart. »Diesmal wird das nicht geschehen. Seine Mutter hat mit ihrem Leben für das Seinige bezahlt. Er muss leben!«
»Aber ...«, versuchte Canai einzuwenden.
»Nein! Mein Entschluss steht fest.« Die grauen Augen des Königs richteten sich auf den Bruder. »Du musst mir helfen!«
Fürst Canai beugte sein Knie und senkte das Haupt. »Ich werde alles tun, was du verlangst.«
»Nimm meinen Sohn und bringe ihn fort von hier. Gib ihn einfachen Leuten, die ihn an Kindesstatt aufziehen sollen. Hier am Hof ist sein Leben in ständiger Gefahr, also such ein Elternhaus an den Grenzen des Reiches. Weit weg von hier!«
»Ist das eine kluge Entscheidung?«
Die Stimme des Königs klang eisern. »Es ist die einzig mögliche Entscheidung.«
Mit diesen Worten legte Asthael seinen Sohn zurück in die Wiege. Einen Moment lang stand er schweigend da und betrachtete das Kind, das mit seiner kleinen, verkrüppelten Hand den Daumen des Herrschers umklammerte.
Er ist so winzig, dachte er. So verletzbar! Mögen die Götter dich schützen, mein Sohn.
Eine einzelne Träne lief unbemerkt über seine Wange. König Asthael zog seine Hand zurück. Die kleinen Finger griffen ins Leere.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ der Herrscher das Zimmer. Er sollte den Prinzen nie wieder sehen.
Zurück blieben die Amme und der Fürst. Das Kind begann zu schreien.
Die freundliche Maske fiel von Canais Gesicht ab. Seine Miene verzerrte sich hasserfüllt.
»Sorg dafür, dass dieser Balg ruhig ist!«, befahl er der Frau. »Und dann wirst du ihn töten! Ich kümmere mich um meinen Bruder!«
»Herr?«
»Was ist?«, fuhr er die Amme an.
»Das versprochene Gold ...«
Canais Hand zog einen schweren Beutel hervor, den er auf den Boden warf. Die Verschnürung öffnete sich und Goldmünzen rollten über die Holzdielen.
»Nimm das Gold, aber enttäusche mich
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