Das Flüstern des Windes (German Edition)
Herr! Es war eine schwere Geburt. Das Kind hatte Steißlage. Ich habe alles in meiner Macht Stehende versucht, aber ich konnte sie nicht retten.«
Der König verbarg sein Gesicht in den Händen. Tränen liefen zwischen den Fingern hervor.
»Tot!« flüsterte er.
»Aber das Kind, euer Sohn lebt. Es ist ein kräftiger Junge!«
»Tot!«
Die Hand seines Bruders übte tröstenden Druck auf seine Schulter aus. Canai hatte Mühe, sein Lächeln zu verbergen. Ja, sie war tot, und ihr Sohn, der im Zimmer nebenan gerade seinen ersten zaghaften Schrei ausstieß, würde ihr bald folgen.
Die Beerdigung der Königin war zwei Tage zuvor durch das Jahrhunderte alte Ritual der Feuerbestattung vollzogen worden. In ihrem schönsten Gewand war die Herrscherin bei Sonnenaufgang verbrannt worden, während die ersten Strahlen des neuen Tages zäh über die nebelverhangenen Hügel krochen.
Kein Wind hatte die alten Korkeichen und Silberulmen bewegt. Eine unnatürliche Ruhe hatte über dem Land gelegen, als tausende von Kehlen den Klagegesang anstimmten und die Stille zerrissen.
Asthael hatte die ganze Zeremonie dumpf und äußerlich regungslos hinter sich gebracht, aber hinter der starren Maske seines Gesichtes tobte ein verzweifelter Sturm, und seine gequälte Seele brüllte immer wieder den Namen seiner Gemahlin.
Als Ehemann war es seine Aufgabe gewesen, den drei Meter hohen Scheiterhaufen, den die Priester vor den Toren der Stadt errichtet hatten, zu entzünden. Seine Beine versagten ihm den Dienst, und Canai musste sich bei ihm stützend unterhaken, damit er die Zeremonie in Würde vollziehen konnte. Das trockene Holz hatte rasch Feuer gefangen. Helle, orangefarbene Flammen waren zum Himmel gelodert, in die sich Asthael am liebsten gestürzt hätte. Dort in der glühenden Hitze wartete das ewige Vergessen, aber sein Pflichtgefühl gegenüber seinem Volk und seinem neugeborenen Sohn, auf den er noch keinen Blick geworfen hatte, hielten ihn von diesem Gedanken ab.
Das Feuer schien endlos brennen zu wollen, aber er konnte diesen Platz, ebenso wie alle anderen, erst verlassen, wenn die Asche in die goldene Urne gefüllt werden konnte.
Endlich kam einer der gelb gekleideten, kahl geschorenen Priester auf ihn zu und überreichte ihm das Gefäß, in dem nun die sterblichen Überreste seiner Gefährtin ruhten.
»Möge sie Frieden finden«, murmelte der alte Mann ihm zu.
König Asthael nickte bloß. Seine knorrigen Hände umfassten die durch die glühende Asche erwärmte Urne.
Er zitterte.
Angst, dass ihm der Metallbehälter aus den Händen gleiten konnte, wallte in ihm auf, aber schließlich beruhigte er sich wieder und stapfte mit hängendem Kopf auf die im Morgenlicht schimmernde Stadt zu, deren hohe Mauern wie eine Verlängerung des Berghanges, an dem sie gebaut war, wirkten.
Hinter ihm schwoll der Klagegesang an und ließ die erwachende Natur verstummen, während die Gedanken des Königs Zuflucht in der Vergangenheit suchten.
Die Amme, eine dickliche Frau mit fahlblondem Haar und rosigen Wangen, beobachtete den König, als er in die Wiege fasste und seinen Sohn heraushob.
Der Säugling gluckste leise. Die großen, blauen Augen waren neugierig auf das Gesicht des alten Mannes gerichtet. König Asthael hielt ihn auf Armlänge von sich und musterte ihn nachdenklich. Es war ein schönes Kind. Wohlgeformt, mit einem Büschel brauner Haare auf dem Kopf.
Stolz durchflutete den Herrscher, ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem zerfurchten Gesicht, aber kurz darauf kehrte die Traurigkeit zurück. Die Hände des Kindes zuckten hoch und versuchten erfolglos, nach der Nase des Königs zu grabschen.
»Wie geht es meinem Sohn?« fragte Asthael die Frau, die sich schon aufopfernd um seine Töchter gekümmert hatte.
»Er entwickelt sich prächtig, Herr!«
»Isst er auch genügend?«
»Ja, Herr. Zwei Flaschen Ziegenmilch alle drei Stunden. Er wird einmal ein kräftiger Bursche werden, wenn er so weiter macht.«
»Gut.« Schweigen kehrte ein.
»Herr?«
»Ja, Esther?«
»Seht Euch bitte seine rechte Hand an.«
Der König betrachtete die kleinen Finger seines Sohnes, die sich im sinnlosen Versuch, nach ihm zu greifen, öffneten und schlossen.
»Er hat den Geburtsfehler Eurer Familie. Sein Zeigefinger ist verkrüppelt und unbeweglich.«
»Ja«, bestätigte Asthael. Auch seine eigene Hand wies dieses körperliche Merkmal auf, von dem alle männlichen Nachkommen seiner Familie seit Generationen betroffen waren. Im Gegensatz
Weitere Kostenlose Bücher