Das Flüstern des Windes (German Edition)
Erstes Buch
1.
Die Schreie der in den Wehen liegenden Königin zogen durch das Schloss, während draußen vor den Mauern ein unheilvolles Gewitter tobte. Blitze zuckten hinter den bleigefassten Fenstern, an deren Glas der Regen prasselte.
Die Nacht war so finster wie Thorams Rachen, und wären nicht die Blitze mit ihrem leuchtenden Schein gewesen, die vom Himmel herab zur Erde fuhren, hätte man meinen können, die Welt sei dem Untergang geweiht.
Im Thronsaal tanzte der Schein der Fackeln auf den angespannten Gesichtern zweier Männer, warf ihre Schatten an die Wände, so dass diese wie verkrüppelte Tänzer wirkten, die einen grotesken Reigen aufführten.
An den Wänden des kreisrunden Raumes hingen gewebte Teppiche, auf denen in blutigen Kampfszenen die Geschichte des Reiches Denan dargestellt war. Neben dem Eingang, zwei hohen, hölzernen Flügeltoren mit Messingbeschlägen, stand die legendäre Rüstung des Ork-Herrschers Gruman, der bei der entscheidenden Schlacht an den Sieben Hügeln von einem Vorfahren des jetzigen Herrschers erschlagen worden war.
Die Rüstung galt als Symbol des Freiheitswillens des Volkes von Denan und erinnerte die Menschen daran, dass es immer irgendwo einen Feind gab, der darauf lauerte, dass die Aufmerksamkeit und die Kampfbereitschaft der Einwohner nachließ. Zurzeit waren die Grenzen des Reiches gefestigt, und man hatte schon seit mehr als einer Generation keine Überfälle plündernder Ork-Banden mehr erleben müssen. Trotzdem zeigte die Miene des Herrschers tiefe Sorgenfalten.
König Asthael, groß, hager, mit weißem Bart und buschigen, grauen Augenbrauen saß auf seinem Thron, während sein Bruder Canai, ein schlanker, muskulöser Mann mit schwarzen Haaren, die im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, davor kniete und zu ihm aufblickte.
Ein erneuter Schrei der Königin ließ beide Männer zusammenzucken. Ihre Köpfe ruckten in Richtung der Tür, hinter der die Frau des Herrschers ihr Kind gebar.
Die bleichen Züge des Königs verhärteten sich noch mehr, als er das Leiden seiner Gemahlin hörte, und ein gequälter Schimmer überzog seine grauen Augen.
»Alles wird gutgehen«, versuchte ihn Canai zu beruhigen.
»Bei den Göttern, ich hoffe es!« stieß Asthael hervor. »Aber dieses Unwetter ist ein böses Omen.«
»Ich glaube nicht an solchen Unfug. Wir selbst wurden während eines Gewitters geboren«, erwiderte Canai.
»Ja«, meinte der König schlicht. Seine Gedanken wanderten zu der Tatsache, dass diese eine Nacht vor achtundvierzig Jahren ihn zum Herrscher und seinen zwei Minuten später geborenen Zwillingsbruder zum Beherrschten gemacht hatte. Selbst heute, nach so vielen Jahren, fragte er sich noch, wie Canai damit fertig wurde, und ob er seinem Schicksal grollte.
Asthaels Augen forschten im Gesicht seines Bruders, aber er entdeckte nur bedingungslose Loyalität darin.
»Meine Gemahlin ist nicht mehr die Jüngste und die Ärzte haben uns mitgeteilt, dass dies die letzte Möglichkeit für uns ist, einen Thronfolger zu bekommen.« Sein Kopf sank betrübt herab. »Das Schicksal hat es nicht gut mit mir gemeint. Alle unsere Söhne starben schon im Kindbett. Auch wenn ich meine drei Töchter über alles liebe, das Reich braucht einen Erben!«
Canai erhob sich und trat neben den Thron. Seine feingliedrige Hand legte sich auf die Schulter seines Bruders. Innerlich flammte sein Neid auf, als er das purpurne Tuch des Königsmantels berührte, aber er unterdrückte dieses Gefühl. Alles war nur eine Frage der Zeit und die Macht zum Greifen nahe.
»Alles wird gut gehen!« wiederholte er. Für mich, dafür werde ich sorgen , dachte er dabei. Du wirst den Thron an mich übergeben und an niemanden sonst.
Seine Gedanken wurden von dem Arzt Danel unterbrochen, der die Tür zum Gemach der Königin aufgerissen hatte. Erst jetzt bemerkten die beiden Männer, dass ihre Schreie verstummt waren.
Auf Danels Gesicht kämpften unterschiedliche Gefühle miteinander. Freude und Entsetzen lagen darin. Der König betrachtete dessen blutverschmierte Arme und die dunklen Flecken auf dem grauen Gewand. Panik stieg in ihm auf.
»Herr ... Herr«, begann der Arzt zu stottern. »Ihr habt einen Sohn bekommen!«
»Wie geht es meiner Frau?« keuchte Asthael.
»Es ... tut mir leid!« Danel holte tief Luft, bevor er weiter sprach. Seine Stimme klang wie ein einziger, lang gezogener Seufzer. »Die Königin ist tot.«
»Tot?« wiederholte Asthael mit ersterbender Stimme.
»Ja,
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