Das Foucaultsche Pendel
worden. Das war so herrlich vnd Meisterlich anzusehen, daß ich mich wider die notturft etwas länger auffgehalten.
Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 2, p. 21
Gegen Mittag erschien Lorenza lächelnd auf der Terrasse und verkündete uns, sie habe einen prächtigen Zug gefunden, der um halb eins in *** vorbeikomme und sie mit nur einmal Umsteigen am frühen Nachmittag nach Mailand zurückbringen würde. Ob wir sie zum Bahnhof brächten.
Belbo blätterte weiter in unseren Papieren und sagte, ohne aufzuschauen: »Mir schien, daß Agliè auch dich erwartet, mir schien sogar, daß er den ganzen Ausflug nur für dich organisiert hat.«
»Pech für ihn«, sagte Lorenza. »Wer bringt mich runter?«
Belbo erhob sich und sagte: »Bin gleich zurück. Dann können wir noch zwei Stündchen hierbleiben. Lorenza, hattest du eine Tasche?«
Ich weiß nicht, ob sie sich während der Fahrt zum Bahnhof noch anderes sagten. Belbo war nach zwanzig Minuten zurück und ging wieder an die Arbeit, ohne den Zwischenfall zu erwähnen.
Um zwei Uhr fanden wir ein gemütliches Restaurant am Marktplatz, und die Wahl der Speisen und Weine erlaubte Belbo, weitere Kindheitserinnerungen zu evozieren. Aber er sprach, als zitierte er aus der Biografie eines anderen. Er hatte die Erzählfreude und den glücklichen Ton vom Vortag verloren. Gegen drei machten wir uns auf den Weg zu dem vereinbarten Treffpunkt mit Agliè und Garamond.
Belbo fuhr in südwestlicher Richtung, während die Landschaft sich allmählich Kilometer um Kilometer veränderte. Waren die Hügel um *** eher sanft und auch im Herbst noch lieblich gewesen, so wurde der Horizont nun immer weiter, obwohl nach jeder Kurve höhere Gipfel erschienen, auf denen sich Burgen und kleine Dörfer verschanzten. Doch zwischen den Gipfeln taten sich endlose Horizonte auf — jenseits des Heckenzaunes, wie Diotallevi bemerkte, der unsere Entdeckungen in wohlgesetzte Worte fasste. So öffneten sich, während wir im dritten Gang eine Steigung hinauffuhren, bei jeder Kehre weite Ebenen mit einem wenigen Profil, das am Horizont in einem fast schon winterlichen Nebel verschwamm. Es wirkte wie eine von Dünen modulierte Ebene und war doch schon halb das Gebirge. Als hätte die Hand eines ungeschickten Demiurgen Gipfel, die ihm zu hoch geraten vorkamen, zu einem buckligklumpigen Quittenmus zerdrückt, das sich ohne Halt bis zum Meer hinunter erstreckte oder, wer weiß, bis hinauf zu den Hängen rauerer und markanterer Höhen.
Wir erreichten das Dorf, wo uns Agliè und Garamond in der Bar an der Piazza erwarteten. Daß Lorenza nicht mitgekommen war, nahm Agliè zur Kenntnis, ohne sich seine Enttäuschung anmerken zu lassen: »Unsere exquisite Freundin möchte die Geheimnisse, die ihr Wesen definieren, nicht mit andern teilen. Eine singuläre Schamhaftigkeit, die ich schätze«, sagte er. Das war alles.
Wir fuhren durch weitere Täler und Hügel, Garamonds Mercedes voran und Belbos Renault hinterher, bis wir, als es bereits zu dämmern begann, hoch oben auf einem steilen Berg ein seltsames Bauwerk erblickten, eine Art Barockschlösschen, gelb getönt, von welchem sich Stufen den Hang herabsenkten, Terrassen, wie mir von weitem schien, mit Blumen und Bäumen in üppiger Pracht trotz der Jahreszeit.
Als wir am Fuß des Hanges ankamen, fanden wir uns auf einem weiten Parkplatz, wo bereits viele Autos standen. »Hier halten wir«, sagte Agliè. »Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Die Dämmerung ging schon in Dunkelheit über. Der Anstieg lag vor uns im Licht zahlreicher Fackeln, die längs des Weges entzündet waren.
Es ist seltsam, doch alles, was dann geschah, von jenem Moment an bis in die tiefe Nacht, habe ich gleichzeitig klar und verschwommen in Erinnerung. Vorgestern Abend im Periskop rief ich es mir ins Gedächtnis zurück und empfand dabei eine Art von Familienähnlichkeit zwischen den beiden Erfahrungen. Siehst du, sagte ich mir, jetzt bist du hier, in einer unnatürlichen Situation, ein bisschen betäubt vom leichten Modergeruch alten Holzes, ein bisschen argwöhnend, du befändest dich in einem Grab oder im Bauch eines Gefäßes, in dem sich eine Verwandlung vollzieht. Würdest du nur den Kopf hinausstrecken, du würdest da draußen Gegenstände, die dir vorhin noch reglos erschienen, im Halbdunkel sich bewegen sehen wie eleusinische Schatten zwischen den Dämpfen eines Zaubergebräus. So ähnlich war es auch an jenem Abend im Schloss
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