Das Foucaultsche Pendel
Masse der Zuschauer in Bewegung, einige stürzten und wurden überrannt, andere drohten, die große Cugnot-Karosse umzustürzen. Ich hörte — zumindest glaube ich es, aber ein so groteskes Detail kann ich mir nicht eingebildet haben — die Stimme von Signor Garamond, der sagte: »Also bitte, Messieurs, ein Minimum an Anstand... « Bramanti kniete vor der Leiche Lorenzas und deklamierte ekstatisch: »Asar, Asar! Wer packt mich am Hals? Wer nagelt mich auf den Boden? Wer sticht in mein Herz? Ich bin unwürdig, die Schwelle des Hauses der Maat zu überschreiten!«
Vielleicht hatte es niemand gewollt, vielleicht sollte das Opfer Lorenzas genügen, doch inzwischen drängten sich die Akolythen in den magischen Kreis, der durch den Stillstand des Pendels zugänglich geworden war, und jemand — ich hätte geschworen, dass es Ardenti war — wurde im allgemeinen Getümmel gegen den Tisch gestoßen, der buchstäblich unter Belbos Füßen verschwand, wegbrach, während das Pendel durch die Wucht des Stoßes plötzlich und heftig zu schwingen begann, sein Opfer mitreißend. Das Seil, vom Gewicht der Kugel gestrafft, zog sich ruckartig wie ein Lasso um den Hals meines armen Freundes zusammen und riss ihn nach hinten in die Luft, und so schwang er am Pendel hängend ins östliche Ende des Chors, machte kehrt und schwang zurück, nun bereits leblos (hoffte ich), mir entgegen.
Die Menge wich übereinanderstolpernd an die Ränder des Kreises zurück, um dem Wunder Platz zu machen. Der Spezialist für die Schwingungen, berauscht von der Wiedergeburt des Pendels, sekundierte seinem Impetus, indem er direkt am Leib des Gehenkten agierte. Die Schwingungsachse bildete eine Diagonale von meinen Augen zu einem der Chorfenster, sicherlich dem mit dem Loch, durch das in wenigen Stunden der erste Sonnenstrahl hereinfallen sollte. Ich sah also Jacopo nicht vor mir pendeln, aber ich glaube, dass dies die Figur war, die er im Raum beschrieb...
Sein Kopf erschien wie eine zweite Kugel, eingefügt am Seil des Pendels zwischen Basis und Aufhängepunkt, und wenn die metallene Kugel nach rechts strebte, neigte sich Belbos Kopf — die andere Kugel — nach links, und umgekehrt. Lange gingen die beiden Kugeln auf diese Weise in entgegengesetzte Richtungen, so dass die Figur, die das Pendel in den Raum säbelte, nicht mehr eine Gerade war, sondern ein dreieckiges Gebilde. Doch während Belbos Kopf dem Zug des gespannten Seils folgte, zeichnete sein Leib — vielleicht zuerst noch im letzten Zucken, dann mit der spastischen Behändigkeit einer hölzernen Marionette — andere Bögen ins Leere, unabhängig vom Kopf, vom Seil und von der Kugel am unteren Ende, die Arme da, die Beine dort —, und mir war, als würde, hätte jemand die Szene mit einer Muybrigde-Kamera fotografiert, so dass jeder Augenblick als eine räumliche Folge von Positionen auf den Film gebannt worden wäre — also die beiden äußersten Punkte, an denen der Kopf sich bei jeder Schwingung befand, die beiden Punkte des Stillstands der Kugel, die ideellen Schnittpunkte der beiden Seile des Kopfes und der Kugel, beide unabhängig voneinander, und die Punkte dazwischen, markiert von den Enden der Schwingungsebene des Rumpfes und der Beine —, dann hätte, so schien mir, der am Pendel erhenkte Jacopo Belbo den Sefiroth-Baum ins Leere gezeichnet, hätte mithin in seinem letzten Moment die Geschichte sämtlicher Universen resümiert, hätte in seinem Schwingen und Pendeln die zehn Etappen des Ausströmens und Sich-Entleerens der Gottheit in die Welt festgehalten.
Dann, während der Mandrake fortfuhr, diese Totenschaukel in Gang zu halten, kam durch ein schauriges Zusammenspiel von Kräften, eine Wanderung von Energien, Belbos Leib zum Stillstand. Er hörte auf zu pendeln, das Seil mit der metallenen Kugel pendelte nur noch unter ihm, während er selbst und der Rest des Seils bis hinauf zum Schlussstein reglos verharrten. So war Belbo, dem Irrtum der Welt und ihrer Bewegung entronnen, nun selbst zum Aufhängepunkt geworden, zum Fixpunkt im Universum, dem Ort, an dem das Gewölbe der Welt sich festhält, und nur unter seinen Füßen schwang die Kugel weiter von einem Pol zum andern, friedlos, während die Erde sich unter ihm wegdrehte, immer neue Kontinente vorweisend — und weder wusste die Kugel zu zeigen, noch würde sie je zu zeigen wissen, wo sich der Nabel der Welt befand.
Während die Meute der Diaboliker, einen Moment lang erstarrt vor dem Wunder, erneut zu lärmen begann,
Weitere Kostenlose Bücher