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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Augenblick einen Faden ausspann, der die Sonne festhielt. Das Gestirn war stehen geblieben in seinem Lauf, fixiert in einem Mittag, der eine Ewigkeit hätte andauern können. Und alles hing von Jacopo ab, er brauchte nur abzusetzen, den Faden zu lockern, und die Sonne wäre davongesprungen wie ein Ball, und mit ihr der Tag und das Ereignis dieses Tages, diese phasenlose Aktion, diese Abfolge ohne Vorher und Nachher, die bewegungslos ablief, nur weil er die Macht hatte, es so zu wollen und so zu tun.
    Hätte er abgesetzt, um einen neuen Ton zu blasen, es hätte wie ein scharfer Riss geklungen, viel lauter als die Salven, die ihn betäubten, und die Uhren hätten wieder angefangen, tachykardisch zu ticken.
    Jacopo wünschte sich von ganzem Herzen, dass der Mann neben ihm nie das Kommando Rührt-euch geben würde. Ich könnte mich widersetzen, dachte er, und für immer so bleiben. Blas weiter, so lange du kannst.
    Ich glaube, er war in jenen Zustand der Benommenheit und des Taumels eingetreten, der einen Taucher erfaßt, wenn er versucht, nicht aufzutauchen, sondern die Trägheit, die ihn auf den Grund sinken lässt, noch länger hinauszuziehen. Denn in seinem Bemühen um Ausdruck dessen, was er empfand, lässt Belbo hier seine Sätze im Leeren abbrechen, sich asyntaktisch verdrehen und rachitisch mit Ellipsen durchsetzen. Aber es ist klar, dass er in jenem Moment — nein, er sagt es nicht so, aber mir scheint, es ist ganz klar: dass er in jenem Moment Cecilia besaß.
    Ich meine, dass Jacopo Belbo damals noch nicht begriffen haben konnte — und auch nicht begriffen hatte, als er über sein unbewusstes Selbst schrieb —, dass er in jenem Augenblick ein für allemal seine chymische Hochzeit feierte — mit Cecilia, mit Lorenza, mit Sophia, mit der Erde und mit dem Himmel. Als einziger vielleicht unter den Sterblichen war er im Begriff, endlich das Große Werk zu vollenden.
    Niemand hatte ihm bisher gesagt, dass der Gral ein Kelch, aber auch ein Speer ist, und doch war seine als Kelch erhobene Trompete zugleich eine Waffe, ein Instrument der zartesten Herrschaft, ein Pfeil, der zum Himmel flog und die Erde mit dem Mystischen Pol verband. Mit dem einzigen Festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte: dem, den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem erschuf.
    Diotallevi hatte ihm noch nicht gesagt, dass man in Jessod sein kann, der Sefirah des Fundaments, dem Zeichen des Bundes des hohen Bogens, der sich spannt, um Pfeile abzusenden auf Malchuth, sein Ziel. Jessod ist der Tropfen, der aus dem Pfeil quillt, um den Baum und die Frucht zu erzeugen, Jessod ist die Seele der Welt, denn es ist der Moment, in dem die männliche Kraft als zeugende alle Seinszustände miteinander verbindet.
    Wer diesen Venusgürtel zu weben weiß, der macht den Fehler des Demiurgen wett.
    Wie kann man ein Leben lang nach der GELEGENHEIT suchen, ohne zu merken, dass der entscheidende Augenblick, derjenige, der Geburt und Tod rechtfertigt, schon vorbei ist? Er kommt nicht wieder, aber er ist da gewesen, unaustilgbar, rund und voll, glänzend und generös wie jede Offenbarung.
    An jenem Tag hatte Jacopo Belbo der Wahrheit ins Auge gesehen. Der einzigen, die ihm jemals vergönnt sein sollte, denn die Wahrheit, die er damals erfuhr, war, dass die Wahrheit sehr kurz ist (hinterher ist alles nur Kommentar). Darum versuchte er, die Ungeduld der Zeit zu bändigen.
    Damals hatte er das ganz sicher noch nicht begriffen. Und wohl auch nicht, als er dann später darüber schrieb, oder als er beschloss, nicht mehr zu schreiben.
    Ich habe es heute Abend begriffen: der Autor muß sterben, damit der Leser sich seiner Wahrheit innewird.
    Die Obsession des Foucaultschen Pendels, die Jacopo Belbo sein ganzes Erwachsenenleben lang verfolgt hatte, war — wie die verlorenen Adressen in seinem Traum — das Bild jenes anderen Moments gewesen, jenes damals registrierten und dann verdrängten Augenblicks, als er wirklich das Dach der Welt berührt hatte. Und dieser Augenblick, als er Raum und Zeit hatte erstarren lassen, indem er seinen Zenonschen Pfeil abschoss, das war kein Zeichen gewesen, kein Symptom, keine Anspielung, keine Figur, keine Signatur, kein Rätsel: es war, was es war, es stand nicht für etwas anderes, es war der Moment, in dem es keinen Weiterverweis mehr gibt und die Konten beglichen sind.
    Jacopo Belbo hatte nicht begriffen, dass er seinen Moment gehabt hatte und dass ihm dieser Moment für das ganze Leben hätte genügen müssen. Er hatte

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