Sterbelaeuten
Als alte Frau musste man auf der Hut sein. Vor allem, wenn man allein war. Die Zeitungen waren voll von Geschichten über Verbrecher und Betrüger, die sich ihre Opfer unter wehrlosen alten Menschen suchten. Ursel seufzte. Wie gut war es, dass sie nicht mehr allein lebte. Der Junge war nicht nur ein solider Untermieter. Seit er bei ihr wohnte, genoss sie ein ganz neues Ansehen in der Gemeinde. Ihre Freundinnen beneideten sie, auch wenn sie es nie zugeben würden. Ja, man konnte sogar sagen, etwas von seinem Glanz färbte auf sie ab, auf die alte, schrullige Ursel, Witwe schon seit zehn Jahren. Sie warf einen Blick auf das gerahmte Hochzeitsbild auf der Vitrine.
„Du hast es ja wieder so eilig gehabt.“ Sie nickte dem fröhlich in die Kamera lächelnden schwarzweißen Bräutigam zu. „Fremde Leute muss man sich in die Wohnung holen, wenn der eigene Mann sich so früh aus dem Staub macht.“
Der Schwarzweiße lächelte tapfer. „Oder zu Staub wird.“ Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aber Ursel war am Leben und für ihr Alter noch recht fit. Allerdings hatte Dr. Brinkmann bei der letzten Untersuchung mehr Bewegung verordnet. Spazierengehen sollte sie. Vielleicht hatte er ja ein Abkommen mit der Chirurgie des Kreiskrankenhauses und bekam eine Provision, wenn sie sich beim Spazierengehen die Hüfte brach. Oder vielleicht war sein Sohn so ein Gangster, der alte Frauen bei ihrem täglichen Spaziergang überfiel. Spazierengehen kam für Ursel nicht infrage. Sie hatte sich einen Hometrainer bestellt.
Die Standuhr schlug zur vollen Stunde und der Klang zerriss die Stille der leeren Wohnung. Dämmerung war unversehens die Wände hochgekrochen und Ursel fröstelte. Ächzend stand sie auf. Dann wollen wir mal. Sie verließ das Wohnzimmer, betrat den Flur. Es war ihr, als verfolgten wachsame Augen ihre Schritte, aber das war Unsinn. Nur Gottfried, ihr schwarzweißer und lang verblichener Ehemann auf seinem Foto, konnte ihr hinterhergucken. Dennoch dieses Gefühl.
Auf dem Flur hielt sie inne und horchte, aber hinter der Tür des Jungen blieb es still. Er war wohl unterwegs. Vielleicht zeigte er seinem Freund den Ort. Dieser junge Mann – wie hieß er noch – Josef, Samuel? Ein biblischer Name war es, aber sie kam nicht mehr auf ihn. Jedenfalls, der war ja auch ganz reizend. So ein charmanter junger Mann. Ja, da würden ihre Freundinnen staunen, was sie auf ihre alten Tage erlebte. Das Haus voll junger Leute. Man musste eben offen bleiben. Jung im Kopf und im Herzen, das war sie, auch wenn sie jetzt partout nicht auf den Namen kam. Und sie würde zum Kuckuck auch fit bleiben. Wenn der Doktor wollte, dass sie sich bewegte, nun, dann würde sie trainieren.
Im Schlafzimmer war das Ehebett einem Einzelbett gewichen. Es hatte dem Hometrainer Platz gemacht, einem schwarzen Ungetüm mit zu vielen Knöpfen, das irritierende Alarmtöne von sich gab, wenn Ursel etwas Falsches einstellte. Der Junge hatte ihr zeigen müssen, wie das Ungetüm funktionierte. Die jungen Leute konnten mit den neumodischen Geräten umgehen, sie selbst war ein hoffnungsloser Fall. Ursel zog die Vorhänge vor Fenster und Terrassentür zu. Sie schaltete den Fernseher ein und bestieg das Ungetüm. Langsam setzte sie es mit Füßen und Armen in Gang. Im Fernsehen lief die dreitausendeinhundertfünfundzwanzigste Folge „Verbotene Liebe“.
Ursel kam bald in einen Rhythmus und Schweiß begann sich auf ihrer Stirn zu bilden. Die Kleine, die auch bei Doktor Lessing in „Ein Fall für Zwei“ arbeitete, hatte Streit mit ihrem Freund. Oder war es eine andere Schauspielerin? Ursel blinzelte. Bevor sie den Hometrainer gekauft hatte, hatte sie keine Vorabendserien gesehen. So richtig kannte sie sich noch nicht in der Geschichte aus. Ihr Atem ging jetzt schwer, sie schnaufte. Heute war das Training anstrengender als sonst. Das Ungetüm wollte sich schneller bewegen als sie. Oder hatte sie gestern Abend ein Glas Wein zu viel getrunken und war deshalb heute nicht in Form? So erfrischend dieser Besuch war, er machte sie doch auch etwas nervös. Eine Anspannung hatte sich ihrer in den vergangenen Tagen bemächtigt, die sicher ganz unnötig und dumm war. Sie sah auf das Anzeigefeld, auf dem ein stilisiertes Herz pumpte und ein Zähler lief. Noch zehn Minuten.
Die Vorhänge machten eine kurze Bewegung und schaukelten sich dann wieder ein. Ursel richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Fernsehsendung. Irgendwer hatte ihr erzählt, dass Matula aufhören wollte. Er
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