Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
die Augen, manchmal die Schläfen, heute sitzt der Schmerz weit unten im Hinterkopf, dort, wo der Schädel in den Nacken übergeht.
»Lass uns in den Park gehen«, sagt Philip.
Ich schüttle den Kopf.
Philip verlässt das Zimmer, kommt zurück, desinfiziert meine Wunde, verbindet sie, und wiederholt: »Lass uns in den Park gehen.« Er spricht ernst und deutlich, mahnend, wie Erwachsene mit Kindern sprechen und Ärzte mit Kranken.
Zögernd reiche ich ihm die Hand und lasse mich hochziehen.
Der Park ist nicht weit entfernt und grenzt unmittelbar an das Gelände der Klinik an, gleichzeitig ist er ein anderer Ort in einem anderen Land auf einem anderen Planeten in einem anderen Universum.
Ich hake mich bei Philip ein. Nicht nur wegen der Knöchelverletzung, die mich den Fuß in einem schiefen Winkel aufsetzen lässt, sondern vor allem, weil ich Halt suche. Etwas stimmt nicht mit meinem Gleichgewichtssinn.
Philip führt mich über die schmalen Wege an den Rasenflächen und Beeten vorbei. Er hat sich nicht umgezogen, trägt sein weißes Hemd, seine weiße Hose. Ich bilde mir ein, dass die Spazierenden uns verstohlen hinterherschauen und dass sie sich fragen, an welcher Krankheit ich leide, einer Krankheit, die mich hier draußen im Licht und geschützt durch eine große Sonnenbrille reizvoll matt und bleich aussehen lässt. Wäre irgendwer mutig genug zu fragen, dann würde ich antworten. »Schwindsucht«, würde ich sagen und nicht einmal lügen. Selten habe ich mir so sehr gewünscht zu verschwinden wie jetzt.
Philip und ich drehen eine Runde um den See und setzen uns auf eine Bank. Ich deute auf zwei moderne Einfamilienhäuser am Rande des Parks.
»Die wurden erst vor zwei Jahren gebaut«, sage ich. »Vorher stand dort ein Altbau.« Dann erzähle ich Philip die Geschichte von dem verfallenden Haus. Ich erzähle von dem Abend im September, von dem Regen, von dir, der du mich ein drittes Mal gefunden hattest. Während ich spreche, werde ich langsamer und mache immer größere Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Bald werde ich Philip all unsere Geschichten erzählt haben, die Geschichte unseres Kennenlernens, die Geschichte des verfallenden Hauses, die Geschichte deines Vaters. Es werden keine neuen dazukommen.
»Vielleicht werde ich verrückt«, sage ich, weil ich in den letzten Tagen oft daran gedacht habe, an diese Möglichkeit, weil ich der Meinung bin, dass sich das Hier und Jetzt bei klarem Verstand nicht aushalten lässt. Vielleicht aber bin ich auch schon verrückt. In jenem Sinn des Wortes: Ver-rückt. Ich bin abgerückt von mir selbst. Ich stehe nicht mehr in, sondern neben mir, bin zu einer anderen Person geworden, die zwar meinen Namen trägt und in meinem Körper wohnt, mir aber eine Fremde ist.
»Ich kann nichts mehr«, sage ich zu Philip. »Nicht warten, nicht arbeiten. Ich kann nicht einmal mehr denken, etwas lesen, etwas hören und es verstehen. Ich bin –«
Ver-rückt.
Ich bin außer mir.
Fast so wie damals, als wir einander wiedergefunden hatten. Als ich irre war vor Glück, das war ich, setzte mich in die falschen Straßenbahnen und fand mich an Orten wieder, an die ich nie hatte fahren wollen. Ich vergaß, was ich tat, während ich es tat, stand still in der Küche, einen Löffel in der Hand, saß auf der Bank im Flur, einen Schuh bereits angezogen, den anderen auf dem Boden liegend. Und mit den Gedanken immer bei dir, keinen einzigen übrig für die Welt um mich herum.
Irre. Außer mir, neben mir, fern von mir.
Ich habe Philip vergessen und die Bank und den Park, und als er spricht, schrecke ich auf.
»Du musst etwas tun«, sagt er.
»Es gibt aber doch nichts zu tun«, erinnere ich ihn. Denn tatsächlich gibt es nichts für mich zu tun: Ich bin keine Ärztin, keine Forscherin, keine Neurologin, kann dich nicht heilen, neu zusammensetzen, reparieren und zurückholen. Das Einzige, was ich kann, erinnere ich Philip, ist reden, erzählen, Worte aneinanderzureihen. Und alle Worte der Welt machen hier, machen für dich und mich keinen Unterschied.
Eine Frau und ein Kind laufen an uns vorbei, das Kind springt über den Rasen und singt sich selbst etwas vor. In diesem Augenblick wünsche auch ich mir ein Kind, nicht, weil ich gerne eine Mutter wäre, plötzlich hier und jetzt, sondern weil ich vertraut sein möchte, mit so einer Person, die noch nichts ahnt von dem, was kommt, oder eher: dem, was geht. Dem, was verschwindet. Ich möchte gemeinsam mit ihr im Anfang leben und nichts
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