Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
dass es nur darum geht, Zeit zu überbrücken, dass die Fremde vorübergehend und begrenzt ist, dass es mein Zuhause immer noch gibt, irgendwo in der Zukunft.
Während ich warte und renne und wenig schlafe und wenig esse, falle ich in eine Phase meines Lebens zurück, die ich geglaubt hatte, vor langer Zeit für immer hinter mir gelassen zu haben. An jenem Tag, von dem ich noch erzählen werde, verliert die Welt ihre Konturen. Sie verformt sich, zerfließt, ordnet sich neu an, oder vielleicht eher: ordnet sich alt an, denn es ist die Welt meiner Kindheit, in der ich mich wiederfinde. Eine Welt, die unheimlich und schwer zu begreifen ist, weil es wenig Gründe und Erklärungen gibt, keine Kontinuität und keine Kohärenz, gleichzeitig aber das Versprechen von unendlich vielen Möglichkeiten. In dieser Welt gelten seltsame Regeln. Meine Gedanken, aufwendige Verhaltens- und Denkmuster oder aber abwegige Zufälle bestimmen die Wirklichkeit, die Zukunft, den weiteren Verlauf der Dinge.
Ich verstricke mich in meine Zahlen. Man hat mir gesagt, dass es ungefähr um halb drei zu dem Unfall gekommen ist. Also suche ich nach der 23.
Oder der 32.
Oder der 230.
Ich bin nicht sicher, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, wenn die 23 meinen Weg kreuzt. Bloß, dass es von Bedeutung ist, weiß ich sicher.
Wenn ich auf Zahlen stoße, die gar nichts bedeuten, dann überlege ich so lange, bis sie etwas bedeuten. Zu der 36 etwa wusste ich nichts zu sagen, bis mir einfällt, dass du am 3. Juni aus dem Paternoster gestürzt bist, was sie zu einer Glückszahl macht.
Die Vier ist eine gute Zahl, die Fünf eine schlechte. Wenn in der Cafeteria des Krakenhauses etwa nur fünf belegte Brötchen auf dem Tablett liegen, muss ich still auf einem der roten Plastikstühle sitzen bleiben, bis jemand mich holen kommt.
»Magisches Denken«, sagt Professor Dunker, mit der ich oft telefoniere oder mich in Cafés treffe. (An die Universität komme ich nie.)
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Arbeit«, sagt sie dann zu mir. »Lassen Sie die Arbeit so lange liegen, bis Sie denken, dass es Ihnen möglich ist, weiterzumachen.«
Ich nicke. Tatsächlich aber glaube ich nicht, dass ich jemals wieder daran arbeiten werde.
Man sagt nicht umsonst: Stunden totschlagen.
Die Zeit ist ein ernstzunehmender Gegner.
Vor allem nachts fühle ich mich von ihr überwältigt. Ich versuche zu lesen, kann mich aber nicht konzentrieren. Weil ich mich nicht selbst denken hören will, kaufe ich mir Hörbücher, die ich stundenlang laufen lasse. Eine Weile funktioniert es. Gleich, ob Männer oder Frauen mit hellen oder dunklen Stimmen zu mir sprechen, nach wenigen Sekunden verschließt sich etwas in meinem Kopf. Weder dem Erzählten noch meinen eigenen Gedanken kann ich länger folgen, hänge fest in einem Netz, einem Gewirr aus Worten. Letztendlich sind aber auch die Hörbücher nur eine Notlösung. Irgendwann kommt immer der Moment, wenn eine Geschichte zu Ende erzählt wurde und ich mich wiederfinde in meinem eigenen Leben, über das ich nichts wissen will.
Die Geschichte von Philip
Ich will von Philip erzählen und davon, wie wir einander kennenlernten. Er muss von Anfang an da gewesen sein, auch während der ersten Tage im Krakenhaus, als ich glaubte, mein neues Leben sei ein Irrtum, der bald richtiggestellt werden würde. Ich kann mich nicht an unsere erste Begegnung erinnern. Ich habe auch keine Ahnung, welche Schuhe er trug. Wahrscheinlich weiße.
Philip fällt nicht aus dem Nichts auf mich herab, er setzt sich langsam zusammen: Er ist eine Hand auf meiner Schulter, ein Rücken, über dein Bett gebeugt. Er ist ein wachsamer Blick und höfliche Fragen und vor allem die Schritte auf dem Gang, die sich der Tür nähern.
In dieser Zeit fühle ich mich durch jeden gestört, durch Effie, durch die Ärzte, die Schwestern und Pfleger. Auch, weil ich Schwierigkeiten habe, sie zu verstehen. Ich hätte nicht gedacht, dass man jemanden nicht verstehen kann, weil er zu laut spricht, aber mit den Lautsprecheranlagen auf Bahnsteigen ist es ja ähnlich: Statt einzelner Worte hört man nur noch ein verzerrtes Dröhnen, einen Angriff aufs Ohr. In der Regel nicke ich einfach, weil ich denke, dass es nicht besonders wichtig gewesen sein kann. Nur manchmal schüttele ich den Kopf und tippe gegen mein Ohr, als sei ich plötzlich taub geworden. Vielleicht bin ich das auch.
Philip stellt sich allmählich scharf. Er ist nicht besonders groß und hat freundliche
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