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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Köpenick ließ er sich ein Haus bauen (im Tudor-Stil). Dahinter mit abgeteiltem Nebeneingang für die Arbeiter die »Mühle«. Vier Gebäude hintereinander zum Fluß hin gelegen. Zwei Bootsstege, der eine für den Abtransport der Ware und den Antransport der Rohstoffe und Lumpen und daneben der zweite Steg, an dem sein Lieblingsboot angetäut lag, vom Pförtner der Fabrik betreut, der zugleich Bootsmann war.
    Das Boot auf der Spree war Charles Blackburns Augenstern, obwohl er daneben noch über eine Rennyacht in Kiel verfügte, mit der er jährlich an den Rennen von Cowles vor der Isle of Wight und dann an den Kaiserregatten teilnahm. Ein solches hochspezialisiertes, kostbares Leistungsschiff kann man nicht lieben. Dazu drängt es zu gewalttätig auf Leistung. Jährlich ließ mein Urgroßvater ein solches Rennschiff nach den neuesten Forschungen bauen. Er verlor schließlich sein Geld durch diese Ausgaben, aber auch durch die Abwesenheiten von seiner Fabrik, die das Rennsegeln erforderte. Die Kategorie Rennyacht entspricht eher dem Bereich »Sittlichkeit« und »Pflicht«. Er glaubte vor seinem Gewissen, einem strengen Zwingherrn, das dem Phlegma seines Charakters entgegengesetzt war, nicht bestehen zu können, wenn er nicht um den Sieg in einer der großen Segelwettbewerbe kämpfte. In diesem Falle hätte er das Ansehen der Club-Genossen, deren Meinungsgesumm in seinem Kopf rumorte, nicht aufrechterhalten können. So ist das, was man ein christliches Gewissen nennt, ein Club Urteilender, ein Chor der Konkurrenten, keine freundlichen Brüder, sondern der vervielfältigte, um 18 Jahre ältere Bruder John in anderer Gestalt. Darauf kann man seine ganze Liebe nicht wie auf das billigere und kleinere Flußboot am Pier werfen.
    Spätabends löste er oft die Taue, die das Boot am Steg hielten, und ließ sich die Spree hinabtreiben, um dann, mit Eifer, gegen den Strom und oft auch gegen den Wind, wieder zu dem wohleingerichteten Besitz zurückzukreuzen. Vielfach kam er erst nach Mitternacht an und schlief wie ein Bär, die Luftmassen des Flusses noch in den Bronchien.
    Welcher Nation er sich zuzählte, hätte er nicht sagen können. Er gehörte sich selbst, der Uhr seines Kreislaufs und seiner Sinne (des Gesumms Dritter), die ihn wie Doggen begleiteten. Nicht gern tat er etwas nur deshalb, weil es von ihm verlangt wurde. Aber getreulich begleitete ihn, auch wenn er Pflichten folgte, das Behagen, das die Verdauung ihm bereitete, ebenso die vielen Bilder, die in seinem Hirn entstanden und die von Afrika oder Sydney handeln mochten, ohne daß er je dort war. Er war froh, soviel Fremde, soviel Ferne einsparen zu können. Sonst sparte er wenig. Eigentlich waren die Millionen rasch verabschiedet, die ihm in den Boomjahren zugeflossen waren.
    Seine fünf Söhne waren auf keinen definierten Beruf vorbereitet worden. Charles Blackburn hatte sie als seine Bootsmänner gedrillt. Um einen Erbstreit von Anfang an zu unterbinden, hatte er sie zu seinen Lebzeiten je mit einem Vermögen ausgestattet.
    Er selbst starb besitzlos, weil das für sein Alter erworbene Grundstück am Scharmützelsee wegen der Überschuldung seiner Fabrik von einem Bankhaus gepfändet und versteigert wurde. Er besaß, um seine Füße auf festen Boden zu setzen, in seiner Altersphase nur ein unpfändbares Hausboot, immerhin ein Wasserfahrzeug, auf dem er am Ufer des Sees lebte.
    Zuletzt starb er wegen eines Irrglaubens der Vorfahren, die von Methodisten abstammten, bevor sie Kapitalisten wurden. Oft bringt die Altersdemenz eine Attacke dieser Vorfahren zum Durchbruch. So glaubte er auf seine GESCHLECHTLICHE REINHEIT besonders (und so spät) achten zu müssen. Vielleicht erinnerte er sich auch an irgendeine Schuld. Deshalb reinigte er sein schlaffes Geschlechtsteil jeden Morgen, gleich nachdem er Verdauung gehabt hatte. Nach einer Weile ging er dazu über, mit einem spitzen Stöckchen, stoffumwickelt, auch die Harnröhre zu putzen. Das Glied entzündete sich. Einen Arzt aufzusuchen hätte ihn geniert. Auch bestand die Schwierigkeit, daß er nicht mehr bezahlen konnte. Als guter Buchhalter ahnte er, daß die Minuten- und Stundenzahlen seines Lebens aufgezehrt wären, wie es ja auch bei seinem Geldvermögen der Fall war. Bevor noch die Entzündung ihn umbringen konnte, brach er wegen eines Schlaganfalls zusammen. Niemand vermißte ihn zunächst, da er so zurückgezogen lebte. Er, der gesellige Mensch.

    Abb.: Beim Präparieren des Ruderboots, das ihn zu seinem Segler

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