Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
Vom Netzwerk:
verwickelt. Das Kind von 1818 hat seine Landsturmzeit absolviert. Ein etwas nervöser, wie gesagt, erkältungsgefährdeter Mann. Er hilft in Berlin, die Revolutionäre von den Barrikaden zu verjagen. Königstreue Leute wie er horchen an den Massen, die in seinem Beobachtungsraum (der Eckkneipe) essen, trinken und sich freimütig äußern. Mein Großvater mütterlicherseits, vierter Sohn, gehorcht diesem Vater in nichts. Sein älterer Bruder, sportlich und dem Vater gehorchend, verunglückt tödlich am Reck. Die beiden anderen älteren Brüder arbeiten sich in der väterlichen Gastwirtschaft ab. Viel Trinkgeld! Davon will mein Großvater mütterlicherseits nichts wissen. Er besitzt einen Instinkt für glückliche Umstände. Einen sagenhaften Sinn für die BIOLOGIE DER LUST . Ausweis seiner Abkunft, wie erwähnt, daß der rechte Daumennagel ein Defizit aufweist. Das läßt sich mit der Nagelschere zurechtschneiden und behindert keine Laufbahn.

    Abb.: Charles Blackburn, mein Urgroßvater mütterlicherseits. Die englische Linie.
Mein Urgroßvater mütterlicherseits
    In seiner letzten Sekunde stürzte er auf die Planken seines Hausboots, des letzten Besitzes, über den er verfügte. Er starb an einem Hirnschlag. Das war im Juli 1914. Wenige Wochen später brach der Erste Weltkrieg aus. Mein Urgroßvater wäre als britischer Staatsbürger auf vier Jahre interniert worden. Davon wußte er zum Zeitpunkt seines Todes nichts. Auch überlegte er niemals viel im voraus. In seinen letzten Tagen verhielt er sich so, wie er als junger Mann nicht anders gelebt hatte.
    Einer überlegt etwas, weil er weiß, daß andere es denken, etwas überlegt in ihm. Nichts Spirituelles ist an der Tatsache, daß die Gedanken in der Gemeinde anderer leben. Es ist angenehm, montags früh aufzuwachen, weil alle übrigen das gleiche tun, und zwar wollen sie die neue Woche anbrechen lassen.
    Sein Bruder John war 18 Jahre älter als er. So nehmen die Erstgeborenen den Kampf auf mit den störrischen (auch gewaltsamen) Eltern, schaffen mühsam die Bahn, auf der die Geschwister sich dann bewegen. Den nervösen kommerziellen Aktivismus des älteren Bruders mußte mein Urgroßvater Charles Blackburn nicht wiederholen. Gelassen erkannte er stets, was ihm nützte. Viel Raum blieb für weiterführende Ideen.
    Bis er im Juli 1914 starb, hatte mein Urgroßvater 236 Millionen Sekunden geatmet, 23 Millionen Minuten verschwendet, 657000 Stunden verausgabt oder schlecht und recht verwaltet. Ein gewaltiges Vermögen an Leben. 27375 Tage, die alle einen Morgen, einen Mittag und einen Abend hatten. Eine gewisse Zeit lang war er auch finanziell Millionär gewesen, gleich ob in britischen Pfunden oder in Reichsmark gerechnet. Immer aber, auch ohne Geld und Betrieb, fühlte er sich als reicher Mann durch den Besitz an Zeit. Prächtig strömte Blut in seinen Adern.
    In Batley, gelegen in Yorkshire, dem Zentrum der Shoddy Mills, hatte sich die Familie Blackburn kurz nach der industriellen Revolution eingerichtet. Shoddy hieß die Herstellung von Neustoffen aus Lumpen und Altstoffen. Das Labor oder die Fabrik, die so etwas herstellt, nennt man »mill«, eine Stoffmühle.
    Wieder hatte der Vorgänger-Bruder den Weg gebahnt, mit anderen Unternehmern eine britische Kolonie in der Nähe Berlins errichtet. Charles Blackburn, mein Urgroßvater, würde ihm folgen. Jetzt im Deutschen Reich nannte er sich zeitweise Carl Blackburn. 1891 kaufte er die Niederlassung seines Bruders in Köpenick. Er verdiente rasch, ebenso rasch verlor er später das Ganze. Träge war er in seinen Entscheidungen. Hatte er einmal Theresa Agnes Laura Jachmann, meine Urgroßmutter, um ihre Hand gebeten, sozusagen in raschem Entschluß auf Vorbeifahrt mit seinem Boot an deren Familiensitz, änderte er diesen »Entschluß« (zunächst eine Laune) durch nichts. Lieber gewöhnte er sich an die fremde deutsche Frau, ehe er von den Worten seines Antrags irgend etwas zurücknahm. Sie hatten neun Kinder miteinander. In Batley war er dem Druck der Familie entkommen, einem gewerblichen, einem religiösen und einem psychologischen. Das bedeutete noch nicht, daß er entschlossen gewesen wäre, endgültig im Deutschen Reich zu bleiben, wo eigentlich niemand richtig Englisch sprach. Die Arbeitskräfte waren extrem billig. Zahlreiche Patente, in England geschützt, waren hier vogelfrei. So produzierte er über Jahrzehnte erfolgreich und ohne Ortswechsel. Das ergab sich aus der Natur der Sache, nicht aus Willensbildung. In

Weitere Kostenlose Bücher