Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
Vom Netzwerk:
bringen soll.
Shoddy
    Die dritte Generation der Industriellen Revolution in Mittelengland spezialisierte sich auf Resteverwertung. Hier lag die Gewinnspanne. Stoffe aus Lumpen, die sogenannte Shoddy-Produktion, waren ein Billigprodukt. Die Stadt Batley gehörte zu den Zentren der Shoddy Mills. Deren Ausgangspunkt war zunächst der Aufkauf von Wollumpen und Resten aus der Weberei. Sie werden nach Appretur, Farbe und Feinheit der Stoffe sortiert. Nähte, Knöpfe, Haken und Ösen werden entfernt.
    Dann werden diejenigen Lumpen, die Pflanzenfasern enthalten, zu dem sogenannten Extrakt gestampft. Sie werden karbonisiert, mit Schwefel- und Salzsäure erwärmt, mit Alkalien behandelt und gespült. Die Pflanzenfasern können jetzt von den Wollfasern getrennt werden. Kunstverstand gehört dazu, die besonderen Rezepte in diesen einzelnen Stadien zu dosieren. Die Unternehmer haben hierin die gleiche Facharbeiterkenntnis wie die Vorarbeiter. Einiges von diesem Wissen ist geheim.
    Die reinen Wollumpen werden in einen Entfaserungsapparat gelegt, den Reißwolf, also in eine Trommel von einem Meter Durchmesser, die zahlreiche spitze Zähne besitzt und mit 800 Umdrehungen in der Minute rotiert. Dieser Wolf zerreißt die Lumpen in ihre einzelnen Fasern. Es entsteht ein Rohstoff zweiter Gattung.
    Die kürzesten Fasern sind wie Staub aus dem Gewebe herausgefallen. So ist die Shoddy-Wolle entstanden mit hinreichend langen Fasern. Man kann sie wie Naturwolle verspinnen zu Uniformen, Trikotagen, Arbeitskleidung. Woyzecks Sonntagsuniform, in Georg Büchners Drama, besteht aus Shoddy.
Ein flotter Geist in einem unsicheren Körper
    Lebenslänglich haßte er Gepäck. Gern verschenkte er, was er nicht brauchte. Der Lieblingsbruder meiner Großmutter mütterlicherseits hieß Herbert. Sie war acht Jahre, als er geboren wurde, und er lief anfangs an ihrer Hand. Den Geist der Unabhängigkeit gegen den stets zu direkten Vater, den sie mit ihrer Schwester Jenny teilte, gab sie ihm ein. Nach ihm nannte sie ihren Erstgeborenen, den sie im Ersten Weltkrieg verlor. Ihr Bruder Herbert entzog sich, sobald er 21 Jahre alt war, der Verschwörung, die den Vater mit seinen beiden Erstgeborenen verband. Sie waren fanatische Segler und neigten im Wirtschaftsleben zu glücksspielähnlichen Eskapaden: als hätte Herbert vorausgeahnt, daß das für alle drei mit Insolvenz enden würde. Jedenfalls forderte er den Pflichtteil seines Erbes und verließ Land, Fabrik und Familie. Das galt aber nicht nur für den Köpenicker Kreis, die Trennungslinie verlief tiefer. Er wanderte nach Smyrna aus, an die Ägäisküste des Osmanischen Reiches. Er betrieb eine Schiffahrtslinie und gründete eine Brauerei für eisgekühlte Biere. Dann heiratete er eine Griechin aus reichem Hause vor Ort. Er konvertierte zum griechisch-orthodoxen Glauben. Endlich lag die Strenge von Mittelengland hinter dem Horizont. Er war ein Geselle mit Sinn für Lebensgenuß. Von 1901 bis 1921 florierten die Unternehmen. Er besaß loyale, intelligente Aufseher und Geschäftsführer, mußte nicht viel arbeiten.
    1922 war sein Glück in Gefahr. Smyrna brannte. Es gelang ihm, eine türkische Wache anzuwerben. Noch 1923, als die Türkei ihren Frieden schloß, waren Herbert Blackburns Gewerbebetriebe in vollem Gang. Sein flotter Geist war in einen unsicheren Körper geraten. Die Seele kann nicht bestimmen, welchen Leib aus dem Zufallspool so vieler unterschiedlicher Vorfahren sie erhält. Diabetes quälte den Glückssucher, schwächte das Herz. 1930 starb er in Smyrna, fünfzig Jahre alt. Eine Postkarte war alles, was meine Großmutter vom Lieblingsbruder behielt.

    Abb.: Herbert Blackburn, Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits.
Einen Moment lang hat es den Anschein, daß in der Nähe von Manchester ein neuer Menschentyp entsteht
    Karl Marx gehörte (wie Karl May, Immanuel Kant oder die Obersten im MfS a. D. Däneke und Mangold) zu den Fernbeobachtern. Er reiste nicht nach Mittelengland und beobachtete an Ort und Stelle, sondern exzerpierte Parlamentsprotokolle, Berichte von Fabrikinspektoren, wissenschaftliche Berichte und Zeitungen in sorgfältiger Weise. Die Umbrüche der Industriellen Revolution fesselten seine Phantasie. Um 1840 ging es bereits um den dritten Schub dieser Umwälzung, der sich von den beiden vorangegangenen nachdrücklich unterschied und eine Intensivierung der Produktionsprozesse mit sich brachte. Die Manufakturen und Mills begannen ihre Entwicklung zur späteren kasernierten

Weitere Kostenlose Bücher