Das fuenfunddreißigste Jahr
mich natürlich seither immer wieder mal im Spiegel gesehen, aber die Energiesparlampe taucht mein Badezimmer in ein kaltes Licht und stellt jede reale oder eingebildete Veränderung meines Körpers derart bloß, als ob ich dem Blitzlichtgewitter einer Meute Paparazzi ausgesetzt wäre, die sich vom Aas menschlicher Entblößungen nährt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Ich werde alt. Was weniger problematisch ist, als es sich anhört. Schließlich altere ich ja vom Tag meiner Geburt an, manche würden sogar sagen: seit sich die Zygote, die sich aus einer Samenzelle meines Vaters und einer Eizelle meiner Mutter bildete, erfolgreich in der Gebärmutterschleimhaut eingenistet hat. Womit ich hingegen ein großes Problem habe, ist, wie sichtbar der Alterungsprozess seit einiger Zeit vonstatten geht, nachdem er lange Jahre, ja Jahrzehnte im Grunde genommen unsichtbar vor sich ging. Diese Offensichtlichkeit hat etwas Verletzendes, geradezu Obszönes. Ich werde langsam ein alter Sack, und jeder kann es sehen. Ich würde mir die Haare raufen, wenn ich nicht befürchten müsste, dass die Strähnen, die ich mir dabei ausreiße, nicht mehr nachwachsen. Es gibt eigentlich nichts, was ich mir groß vorwerfen muss. Schließlich nimmt jeder seine Jugend so lange für selbstverständlich, bis sie zu Ende ist. Dumm nur, dass sich dieses Ende nicht ankündigt, sodass man sich bei allem Abschiedsschmerz langsam daran gewöhnen kann, alt zu werden. Es kommt vielmehr wie ein schwerer Unfall: Eine Sekunde davor war man noch gesund, in der nächsten hat man mit den Folgeschäden zu kämpfen.
Die Haare auf meiner Brust haben schon mehrmals die Farbe gewechselt. Ursprünglich waren sie spärlich und blond, dann dunkelblond. Als ich mit diesem Farbton eines trüben Herbsttages endlich meinen Frieden schließen wollte, wuchs mir plötzlich ein brauner Pelz auf der Brust, bei dem ich lange befürchtete, er könnte auf den Rücken überspringen. Eine Horrorvorstellung! Schließlich fühlen sich die meisten Frauen von einem üppig behaarten Männerrücken geradezu abgestoßen. Aber der Wildwuchs beschränkte sich glücklicherweise auf meine Brust, er breitete sich nicht einmal auf meinem Bauch aus. Die längeren Haare, die mir ab und zu auf dem Rücken sprossen, wurden von Frauen entschlossen ausgerissen. Auf meiner Brust gibt es inzwischen sogar mehr graue Haare als auf meinem Kopf, irgendwann wird ein graues Stoppelfeld entstanden sein, was mich in diesem Fall nicht besonders stört, sofern sich weiterhin weibliche Finger und Lippen darin verirren. Mit meinem Gesicht ist das anders. Eitelkeit spielt sicher eine Rolle und ist zuallererst eine Frage der Quantität: Die Anzahl der Menschen, die mein Gesicht zu sehen bekommen, steht in keinem Verhältnis zu jener überschaubaren Menge, die sich mit meiner nackten Brust konfrontiert sieht. Kriminaltechnisch sind zur Feststellung der Identität auch die Fingerabdrücke und das Zahnbild von großer Bedeutung. Im zwischenmenschlichen Bereich sind es jedoch zumeist Teile des Gesichts, nicht Finger oder Zähne, die man sich in Erinnerung ruft, wenn man an einen Menschen denkt. Je mehr ich dieser Argumentation folge, desto mehr erkenne ich: Es ist gar nicht der Schock meines alternden Gesichts, der mich fassungslos macht, sondern vielmehr die Schlüssigkeit meines Spiegelbilds: die Tatsache, dass ich genau so aussehe, wie es in mir aussieht. Mein Spiegelbild ist nicht nur ein Fahndungsfoto der Zeit, es ist ein Abbild meines Innenlebens.
Als ich das Brodeln in der Küche höre, halte ich den Rasierschaum immer noch in der Hand, habe meine Wangen und mein Kinn jedoch immer noch nicht damit eingerieben. Die ganze Zeit über habe ich nichts anderes getan, als mich anzustarren, um dabei in Gedanken abzuschweifen, die jedoch treffsicher immer wieder bei mir landen. Zu dumm, das Ganze. Banal. Aber das sind Wahrheiten oft, wenn sie erst einmal des Pathos beraubt sind, mit dem sie sich gerne schmücken.
Der Duft des frisch gebrühten Kaffees hat sich über die Küche hinaus bis ins Vorzimmer ausgebreitet. Ich atme tief durch die Nase ein, um zu erahnen, ob der schwarze Genuss mir gut oder weniger gut tun wird. Ich komme etwas zu spät, der Kaffee geht bereits über, es hat sich eine kleine braune Lache auf dem weißen Email des Herds gebildet. Vorsichtig nehme ich die Kanne von der Flamme. Ich habe mich schon oft verbrannt und werde es sicher noch oft genug tun. Die Außenseite der Espressotasse, in
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