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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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die ich den Kaffee gieße, bedeckt ein Ausschnitt aus dem Stadtplan von Peking. Die Untertasse zeigt wiederum ein Detail aus einem anderen Stadtplan: Manhattan. Tasse und Untertasse habe ich auf dem Flohmarkt gekauft, sie durchtrennen das engmaschige Netz meiner Selbstbeobachtung und befördern mich für Momente an Orte, deren hervorstechende Eigenschaft es ist, nichts mit mir zu tun zu haben. Schon als ich sie vor zwei Jahren zum ersten Mal sah, verspürte ich diese Wirkung, die bis heute nicht nachgelassen hat. Ich denke an Pekings verbotene Stadt, den Central Park, und mache mich auf die Reise.
     
    Die Lufttemperatur beträgt minus zehn Grad, die Wassertemperatur minus 1,7 Grad. Der Schwimmer trägt Badelatschen, wie es sie an jeder Ecke zu kaufen gibt. Auch Badehose und -haube wirken gewöhnlich, nichts deutet auf eine technisch hochgerüstete Spezialausrüstung hin, obwohl ein Team vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Kapstadt anwesend ist, das den Kaltwasserschwimmer schon bei früheren Vorhaben begleitete. Wenn das Fernsehteam nicht wäre, das das Ereignis auf Film bannt, könnte man das Ganze beinah für eine private Veranstaltung halten: Jemand hat eine Wette verloren und muss nun den leichtsinnig vereinbarten Einsatz dafür entrichten. Vielleicht ist der Eindruck der Normalität aber nur folgerichtig: Was den unregelmäßigen Besuchern von Fitnessstudios und Fußballplätzen extrem erscheint, ist für den Extremsportler normal. Seine Leistungen sind in Wahrheit nichts Außergewöhnliches, gar Unnormales, sondern eine in extreme Dimensionen ausgeweitete Normalität.
    Der Schwimmer vollführt Kraulbewegungen, als müsste er, der seit seinem siebten Lebensjahr an Schwimmwettbewerben teilnimmt, sie sich noch einmal extra ins Gedächtnis rufen, als wären sie ihm nicht schon in Fleisch und Blut übergegangen wie das Zähneputzen. Ein Schuss stört diese Phase der Konzentration, dann ein zweiter. Auf einer gegenüberliegenden Scholle ist ein Eisbär gesichtet worden. Er ist wahrscheinlich hungrig, da ihm die Robbenjagd im Sommer schwerfällt und er erst im zugefrorenen Packeis des arktischen Winters auf seine Kosten kommt. Die Wachen geben Warnschüsse ab, damit er nicht auf die Idee kommt, herüberzuschwimmen. Als weitere Schüsse fallen, macht sich der Bär, für den das Team einen üppig gedeckten Tisch darstellt, davon. Der Schwimmer sagt, dass es unvorstellbar sei, dass der Eisbär in dreißig, vierzig Jahren ausgerottet sein könnte. Er hat bis dahin Musik auf seinem MP3-Player gehört, wenig später entfernt er die Stöpsel aus seinem Ohr und zieht den dunkelblauen Anorak aus. Dabei kommt doch noch die bis dahin verborgene Hochtechnologie zum Vorschein, die bei Unternehmungen dieser Art unausweichlich ist. Der Mensch hat bei aller guten Absicht doch nur sich selbst zum Ziel. Es geht hier nicht nur um Sport, auch nicht darum, auf den Rückgang des Packeises hinzuweisen, sondern auch um eine weitere Reise an die Grenzen menschlicher Belastbarkeit. Der Schwimmer bekommt eine etwa zwanzig Zentimeter lange, schwarze Antenne auf einen Gurt montiert, der an seinem Oberkörper befestigt ist. Wenig später, wenn er sich im Wasser fortbewegt, wird sie wie eine mickrig ausgefallene Rückenflosse aussehen. Die Antenne dient dazu, verschiedenste Daten wie Körpertemperatur, Puls und Atmung zu messen und auf dem Notebook der Wissenschaftler anzuzeigen.
    Dann ist es so weit: Ten seconds to swim. Als der Schwimmer – umrahmt von den Anfeuerungsrufen seines Teams – ins Wasser geht, die ersten Schwimmbewegungen vollführt und die Kamera für Augenblicke ganz nahe an sein Gesicht zoomt, ist das Unglaubliche, dass er nicht hyperventiliert, wie es ein normaler Mensch tut, wenn ihn unter der Dusche ein überraschend kalter Wasserstrahl trifft oder wenn er nach der Sauna ins Freie geht und sich mit Schnee abreibt. Auf dem Bildschirm wirkt der Schwimmer nicht anders als ein Mann, der nach der Arbeit ins Schwimmbad geht und ein paar Runden dreht. Kein flackernder Blick, keine hechelnde Atmung. Der Wissenschaftler vor seinem Notebook ist über die empfangenen Daten hocherfreut: alles im grünen Bereich. Es relativiert die Leistung des Schwimmers nicht, wenn er hinzufügt, dass er über eine Fähigkeit verfügt, die noch an keinem anderen Menschen beobachtet worden sei: Während ein normaler Mensch nur wenige Minuten im Eiswasser überlebt, kann der Schwimmer seine Temperatur bei Bedarf um zwei Grad anheben –

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