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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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ein Vorgang, den der Wissenschaftler »Antizipative Thermogenese« nennt. Seine Körpertemperatur wird nach der Durchschwimmung des geografischen Nordpols 4,6 Grad unter Normaltemperatur liegen – ein halber Grad weniger, und er wäre wahrscheinlich gestorben.
    Vielleicht käme mir das alles ja nicht so normal vor, wenn ich nicht vor dem Fernseher sitzen, sondern das Ereignis aus nächster Nähe mitverfolgen würde. Die Kälte am eigenen Leib spüren würde und den Wahnsinn, den es bedeutet, ihr unbekleidet gegenüberzutreten. Nackt kommen wir zur Welt – aber angesichts der arktischen Verhältnisse ist Nacktheit etwas, das an den Tod erinnert, nicht an die Geburt. Obwohl ich mir am Nachmittag selbst kaltes Wasser über den Körper rinnen lasse, bleibt mir die Dimension der Überwindung des inneren Schweinehundes und das Ausmaß des Schmerzes beim Anblick des Mannes im Wasser unbegreiflich. Empathie beruht streng genommen auf einem Missverständnis: Man muss wissen, wovon die Rede ist, um sich in jemand anderen hineinversetzen zu können. Schmerz in verschiedenen Variationen gespürt haben, um den Schmerz eines anderen nachvollziehen und einordnen zu können. Leicht möglich, dass es für mich gar keinen Sinn ergäbe, vor Ort zu sein. Momentan hätte ich mit Sicherheit weder die körperlichen noch die geistigen Voraussetzungen, um an einem solchen Vorhaben teilnehmen zu können. Wahrscheinlich wäre ich von der Kälte so eingenommen, dass nicht nur das Wasser um mich herum, sondern auch meine Neugier und mein Mitleid gefrieren würden und ich ausschließlich mit den Eiszapfen beschäftigt wäre, in die sich meine Zehen und Finger allmählich verwandeln.
    Später wird der Polarschwimmer in Interviews sagen, dass sein Körper beim Eintauchen ins Wasser »sofort in Flammen« stand oder »lichterloh gebrannt« habe. Ein brennender Schmerz ist nicht selten die Begleiterscheinung eines brennenden Ehrgeizes oder einer brennenden Neugier. Entflammen kann ich mir vorstellen, es ist etwas, was mir bis vor kurzem nicht allzu schwerfiel. Aber brennen? Wie schafft man das, ohne zu einem Drogenkonsumenten zu werden oder einem schrulligen Esoteriker? Die Vorstellung, ich müsste bereit sein, meine Haut zu riskieren, um etwas Besonderes zu erreichen, widerstrebt mir. Mir schwant, dass bei einem solchen Einsatz am Ende nicht genug von mir übrig bleibt, um mich meines Triumphs zu erfreuen. Einfacher ausgedrückt: Ich sehne mich nach Veränderung, scheue jedoch die Unannehmlichkeiten, die sie mit sich bringt, wie die Pest. Gleich, ob es sich dabei um meinen Job handelt, der mich unterfordert und mir zu wenig Geld einbringt, oder um meine letzte Affäre, die ich, weil ich nicht gern allein bin und es angenehm ist, regelmäßig Sex zu haben, einfach laufen ließ, obwohl ich wusste, dass sie zu nichts führen, keine nennenswerte Spur in meinem Leben hinterlassen wird.
    Ich habe mir die Dokumentation über den Polarschwimmer angesehen, weil ich mich ihm aufgrund meiner nachmittäglichen Wechselduschen auf eine lächerliche Weise nahe fühlte. Als er nach achtzehn Minuten und fünfzig Sekunden und einer zurückgelegten Strecke von einem Kilometer aus dem Wasser steigt und damit als erster Mensch den geografischen Nordpol durchschwommen hat, weiß ich, dass seine Normalität und die meine eine Welt trennt, eine von Schneestürmen durchtoste, schier unendliche Eisfläche, die zu durchmessen mir unmöglich ist, die zu betreten und in Augenschein zu nehmen mir jedoch sicher guttäte und für mein Leben von einiger Bedeutung sein könnte.
     
    Die Dusche und der Kaffee haben ihre Wirkung nicht verfehlt und ich beschließe, mich doch noch mit Carsten zu treffen, einem alten Freund und zeitweiligen WG-Mitbewohner. Wir haben uns aus den Augen verloren, er hat bald nach dem Studium geheiratet und eine Familie gegründet. Nun ist er von zuhause ausgezogen, die Scheidung steht im Raum, ihre Abwicklung scheint nur noch eine Frage der Aufteilung des Vermögens und des Sorgerechts für die Kinder.
    Ich war einigermaßen überrascht, seine Stimme am Telefon zu hören, mir war gleich klar, dass etwas in seinem Leben gerade nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte. Wenn Leute sich plötzlich melden, von denen man seit Jahren nichts gehört hat, hat der Anlass meist nichts mit einem selbst zu tun, sondern ausschließlich mit dem Leben derjenigen, die den Kontakt suchen. Eine Ehe ist zerbrochen; man hat einen menschlichen oder materiellen Verlust

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