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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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aufstampfte und ins Tanzen zurückzufinden versuchte. Zwecklos. Micha war zuerst gleichmütig, drehte sich dann weg. Sie blieb jedoch an ihm dran, er war gut drauf, wirkte gefestigt, also ließ er es geschehen. Ich sah mich im Zimmer um. Unglaublich, dass die anderen nichts davon bemerkten oder bemerken wollten. Selbst Sonja ließ sich nicht weiter stören. Ulrike zerrte an Michas T-Shirt, packte ihn an den Handgelenken, er stieß sie halbherzig von sich, sie rückte ihm umgehend wieder auf den Leib. Wenn er jetzt nicht aus sich herausging, wann dann? Ich musste lachen. Wenn ich schon an ihm verzweifelte, wie musste es erst Ulrike gehen? Natürlich liebte sie ihn nicht, sondern vertrieb sich mit ihm die Zeit. Angesichts der Tatsache, dass Micha sehr wohl in sie verliebt war, war das schäbig. Dennoch hatte ich in diesem Augenblick zum ersten Mal so etwas wie Verständnis für sie.
    Plötzlich knallte sie ihm eine. Ich hätte zu gerne den Ausdruck in Michas Gesicht gesehen. Ich war in diesem Augenblick kein Freund, sondern ein Spanner. Sonja hatte zu tanzen aufgehört, sie nahm meine Hand, fragte mich etwas. Ich verstand nicht, nickte nur. Ein zweites Mal an diesem Abend ging keiner von uns dazwischen.
    Als Micha beinah bedächtig seinen Körper durchstreckte und zur Decke hochsah, da hörte ich sie – die vielzitierte Stille vor dem Schuss.
    Sein Schlag traf Ulrikes Wange nicht, er detonierte auf ihr. Sie wies hinterher gerötete Abdrücke seiner Finger auf. Ulrike trudelte zurück wie ein Insekt, das im Flug getroffen worden war. Bevor sie hinfiel, drehte sie eine verquetschte Pirouette.
    Micha blieb einfach stehen und sah Ulrike an, die am Boden lag, ihm etwas entgegenbrüllte und weinte. Ich wusste, dass er wie ich im Internat gewesen, vielleicht auch geschlagen worden war. Ulrike hatte ihn schließlich doch noch aus der Reserve gelockt und den Knopf gefunden, den man drücken musste, um eine unverstellte Resonanz zu bekommen, wenn sie auch mit Sicherheit anders ausfiel, als sie sich das vorgestellt hatte.
    Steffen war geschockt. Wie lange war er in keinen Ausbruch von Gewalt mehr verwickelt gewesen? Wo er seine Wohnung doch in eine Oase des Friedens verwandelt hatte!
    Carsten wollte Micha, der inzwischen auf dem Weg nachhause oder in die nächste Kneipe war, nachlaufen, wurde jedoch von Alex daran gehindert. Sonja brachte Taschentücher und einen Waschlappen, den sie in kaltes Wasser getaucht hatte. Ulrike wollte ihre Anteilnahme selbst jetzt nicht. Steffen nahm Sonja den Lappen aus der Hand, hockte sich neben Ulrike hin, die nicht vom Boden aufstehen wollte, und kühlte ihre Wange.
    Ich hatte genug gesehen. Anstatt Anteil zu nehmen, wandte ich mich ab. Die Gleichgültigkeit, die ich Ulrikes Tränen entgegenbrachte, hatte nichts mit dem Kiffen zu tun, auch nicht mit Ulrike. Früher hatte ich einmal gedacht, dass man sich im Leben immer wieder einmal häutete wie eine Schlange. Inzwischen wusste ich, dass das ein viel zu großes Bild war. In Wahrheit zuckte man oft nur mit den Schultern und ging seines Wegs. Manchmal drehte man sich noch einmal um, manchmal auch nicht. Was sich gefühllos anhörte, war in diesem Fall einfach überfällig. Etwas hatte sich totgelaufen – aber Steffen, Carsten, Alex und ich liefen weiter, als wären wir Bestandteile einer Spieluhr, deren Räderwerk von unsichtbarer Hand immer wieder aufs Neue aufgezogen wurde.
    … my libido, yay …
    Sonja, die sich gerade noch um Ulrike bemüht hatte, stand am Fenster. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt – eine Haltung, die ich zum ersten Mal an ihr sah. Ich ging zu ihr hinüber, umfing sie von hinten mit meinen Armen, küsste sie auf den Hinterkopf. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter, wandte sich mir jedoch nicht zu, sondern blickte weiter wortlos zum Fenster hinaus. Was draußen vor sich ging, schien sie mehr zu beschäftigten als das, was sich soeben abgespielt hatte: der Mond, der sich so weit zeigte, wie der Stand der Sonne es zuließ; die Bewohner des Hinterhauses, deren Bewegungen in den von Lampen und Kerzen erleuchteten Räumen man teilweise verfolgen konnte wie in einem Panoptikum; der kommende Tag; die Zukunft.

 
     
    Ich finde es nicht nur schwer, unsere Handlungen aneinanderzureihen; ich finde es auch schwer, eine jede für sich selbst durch eine Haupteigenschaft zu bezeichnen. So zweideutig und vielfarbig erscheinen sie in verschiedenem Lichte.
    Montaigne, Essais III , xiii

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    »Eine Schnapsidee ist

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