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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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keine Zunge mehr, kein Schwanz penetriert ihre Empfangsbereitschaft (von banalen Zwischenfällen im Umfeld von Messen und Weihnachtsfeiern abgesehen). Statt sich zu umarmen, umarmen Mama und Papa Geschirrspülmaschinen und Nappaledersofas. Statt sich ihre Zungen in den Mund zu stecken, stecken sie sie in Autos und Notebooks. Der Eingang zur Kloake ist die Schnittstelle, an der Mensch und Ware miteinander verschmelzen, eins werden. Die Waren und ihr Besitz werden zum Zentrum der Lust, alle Träume von Leidenschaft und Liebe werden aufs angenehmste unter ihnen begraben. Die Waren haben keine Gegenwart, für sie gibt es nur den Komparativ: Mehr! Besser! Größer! Sauberer! Sicherer! Gesünder! Schöner! Asche und Glut: Wer die Wahl hat zwischen Resignation und Gier, der wählt die Gier, verschleiert sie vor sich selbst jedoch als »Lebensstandard« oder »Vorsorge«. Der Kluge baut vor, die Medien nennen es »Besitzstandswahrung«. Wer es einmal über die vierzig geschafft hat, für den gibt es keine Sehnsucht mehr, die langfristig nicht von BMW, Prada, Whirlpool, Saeco, Louis Vuitton, Manufactum, Apple und Rolex gestillt werden kann.
    Eine Vorhölle – so zumindest stelle ich es mir vor, was vielleicht damit zu tun hat, dass meine Mutter lange bei einem Anwalt gearbeitet hat, der auf Scheidungen spezialisiert war. Sie hat mir ausführlich von den Schmerzen erzählt, die Paare einander zufügen, vom Kampf um den Besitz, von der gegenseitigen Verachtung und der Hemmungslosigkeit, mit der sie die gemeinsamen Kinder als Mittel zum Zweck benutzen, den anderen zu bestrafen. In gewisser Weise hatte ich aufgrund dieser Scheidungsgeschichten bereits im Alter von sechzehn Jahren keine Illusionen mehr, was die Ehe betraf.
    Carsten muss länger als geplant auf Lucas aufpassen, Heike wurde aufgehalten, weshalb wir uns bei ihm und nicht in einer Kneipe treffen. Für Carsten handelt es sich nicht um eine Pflicht, sondern um ein Glück. Viele Frauen reagieren auf den Entzug der Liebe mit dem Entzug der Kinder. Aus ihrer Sicht hat der Mann die Kinder genauso betrogen wie sie selbst. Seine Frau bildet da eine Ausnahme, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie frisch die Wunde ist. Carsten weiß aber auch, dass er sich keinen Fehler mehr leisten darf und sich in allem großzügig zeigen muss, wenn er will, dass es so bleibt. Er muss es wissen, er ist schließlich Rechtsanwalt.
    »Es wäre von Vorteil, wenn ich noch viel zerknirschter wäre, mich noch schuldiger fühlen würde, als ich es ohnehin tue. Aber wie du weißt, bin ich nicht gut darin, mich zu verstellen«, sagt Carsten, als wir wenig später in der Küche sitzen und einen Espresso trinken. Das Mobiliar ist sparsam, nur das Notwendigste – Tisch, Stühle, Geschirr, dazu Buntstiftzeichnungen an der Wand, wahrscheinlich von seinen Kindern, die Clowns darstellen sollen, Fußballspieler, Löwen und Delfine.
    »Hast du eine Kaffeemaschine?«, fragt er, nachdem er mir eingeschenkt hat.
    Ich schüttle den Kopf und werfe einen Blick auf seine gusseiserne, im Schein der Küchenlampe blinkende Espressokanne, ein Klassiker italienischer Fabrikation, der in vielen Haushalten zu finden ist, auch in meinem.
    »Gasherd oder E-Herd?«
    »Gasherd. Wieso?«
    »Nur so.« Er schaut zur Tür und durchforstet für einen Augenblick die Stille, ob sein dreijähriger Sohn sich darin auffinden lässt, der kurz zuvor das Zimmer verlassen hat, um irgendwelches Spielzeug zu holen. Wirklich Verantwortung für einen Menschen zu übernehmen, bedeutet wahrscheinlich, immer das Worst-Case-Szenario seines plötzlichen Verstummens, Verschwindens im Hinterkopf zu haben und die Wirklichkeit danach zu beurteilen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es eintritt. Drei, vier Sekunden lang ist nichts zu hören und ich spüre, wie Carsten kurz davor ist, aufzuspringen und nach Lucas zu sehen. Plötzlich scheppert es – ein Geräusch, das man aus der eigenen Kindheit noch gut kennt. Eine Schachtel oder Kiste ist umgeschmissen worden und das darin aufbewahrte Spielzeug hat sich über den Boden verteilt.
    Carsten entspannt sich, lächelt. »Ich habe Kaffeemaschinen immer gehasst. Diese hässlichen Riesendinger, die ständig gewartet werden müssen und dann doch immer kaputtgehen.« Ich hätte darauf gewettet, dass er seine Saeco oder DeLonghi vermisst. Es ist, als hätte er meine Gedanken über Partnerschaft und Konsum erraten und gäbe mir nun eine verspätete Antwort darauf: »Du siehst nur die Erscheinungen,

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