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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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im Laufe der zwei Jahre, die wir zusammen waren, wuchs, sondern gleichsam über Nacht. Nie war die Rede davon, bevor sie mir nach einem Jahr wütend vorhielt, sie habe keine Lust, noch länger »in der Warteschleife zu stehen« – ich wusste bis dahin nicht einmal, dass sie das tat. Sie war zu jenem Zeitpunkt 28, was meiner Meinung nach noch kein Alter darstellt, um dahingehend verrückt zu spielen. Sie wollte jedoch keine alte Mutter sein und hörte die biologische Uhr schon Jahre früher ticken als andere Frauen in meinem Bekanntenkreis. Was vielleicht auch daran lag, dass sie nicht studiert hatte und als Physiotherapeutin schon mitten im Berufsleben stand, als andere noch ihre Jugend verlängerten und zwischen WG, Café und Vorlesung pendelten. Auch ich hatte dieses Leben noch nicht lange hinter mir gelassen, als ich Sonja kennenlernte, und stand gewissermaßen erst am Anfang, wo sie sich bereits Gedanken über den nächsten Schritt machte. Leider ohne mir etwas davon zu sagen, denn hätte sie mir ihren schwelenden Wunsch, eine Familie zu gründen, von Anfang an mitgeteilt, ich hätte wohl die Finger von ihr gelassen, obwohl ich mich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Aber jene Verliebtheit zählte von da an nicht mehr viel, ihr Kinderwunsch war wie ein Fenster zwischen uns, das sich manchmal beiseiteschieben ließ wie am Empfang eines Krankenhauses, was kein abwegiger Vergleich ist, denn irgendwann drehte sich alles nur noch um das eine Thema, sodass unsere Gespräche tatsächlich etwas von Sprechstunden hatten, in denen es hoch herging, die jedoch immer seltener gewährt wurden. Unsere Beziehung wogte ein halbes Jahr hin und her, bis es schließlich vorbei war. Sie machte einen glatten Schnitt, ich war nicht der Mann, mit dem sich verwirklichen ließ, was sie sich vorgenommen hatte, also suchte sie sich einen anderen. Sonja ließ keinen Zweifel daran, dass die knapp zwei Jahre trotz der schönen Stunden, Tage, Wochen, die wir miteinander verbracht hatten, für sie letztlich eine verlorene Zeit darstellten, und wies mich darauf hin, dass großen Worten immer ebensolche Taten folgen sollten, da man sonst nicht glaubwürdig wäre. Außerdem gab sie mir – nicht als Erste und wohl nicht als Letzte – den Rat, endlich erwachsen zu werden. Ein Ratschlag, der auf einige meiner Bekannten anwendbar war, die – wie Sabine – ihr Erbe schon zu Lebzeiten der Eltern verbrauchten oder – wie Alex – aufgrund der Geringfügigkeit des eigenen Verdienstes wieder bei den Eltern eingezogen oder dort erst gar nicht ausgezogen waren.
     
    »Hast du noch Kontakt zu jemandem von früher? Steffen? Oder Alex?«
    Ich schüttle den Kopf. »Nein. Du?«
    Carsten blickt zu Boden. »Hin und wieder.«
    »Wirklich?« Ich bin überrascht, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Schließlich bin ich es, der von einem Tag auf den anderen den Kontakt zu seinen alten Freunden abgebrochen hat – und das, obwohl es nicht einmal einen konkreten Anlass dafür gab. Es hatte keinen Streit gegeben, niemand hatte mir übel mitgespielt. Es war ganz einfach so, dass mir unsere Freundschaft, nachdem wir nicht mehr zusammen in einer Wohnung wohnten und uns nicht mehr täglich sahen, wie eine Gewohnheit vorkam, an deren Ursprung ich mich nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Eine Gewohnheit kann etwas Manifestes sein, das einem angehört und dessen Bedeutung doch über einen selbst hinausweist, etwa, wenn man die Hände zum Gebet faltet oder einem Toten eine Handvoll Erde ins offene Grab hinterherwirft. Unsere über die Jahre kultivierten Sprüche, Gesten und die Anekdoten, denen wir seltsam hilflos und wie aus der Zeit gefallen frönten, waren hingegen ein Fossil, dessen steinerne Konturen kaum einen Hinweis lieferten auf die Lebendigkeit, von der der Fels gewordene Organismus einst erfüllt war. Dass ich zur selben Zeit Sonja kennenlernte, half mir dabei, mich davon zu lösen, auch wenn es mich wieder nur an den Punkt gebracht hat, dass ich darüber nachdenke, warum ich einfach nicht die Kurve kriege – was immer mich dahinter auch erwarten mag.
    Lucas kommt mit seinen »Herr der Ringe«-Figuren zurück und beginnt, sie vor mir auf den Tisch zu stellen. Ich erinnere mich an meine eigenen Cowboy- und Indianer-Figuren, an die Schluchten zwischen den Fauteuils und das Schlachtfeld des Wohnzimmerteppichs, auf dem ich der Geschichte der Eroberung des Wilden Westens eine neue Richtung gab, an deren Ende die Niederlage des weißen Mannes stand.
    Lucas

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