Das Gedächtnis der Libellen
Physikerin werden wollte, hat sie mir den Spitznamen Einstein gegeben, mein kleiner Einstein, vergiss nicht, warm zu sein, hat sie gesagt, und leise hinzugefügt, warm in deinem Herzen. Es war wie eine Aufforderung, zwar fortzugehen, aber niemals zu vergessen, von wo ich aufgebrochen war und dass ich Schiffe geliebt hatte, den Gesang der Möwen kannte und die vielen Blautöne des Meeres unterscheiden konnte, dass ich die Morgen- und Abenddämmerung am Salzgeruch des Wassers erkennen konnte, noch bevor sie aufkamen, dass ich wusste, wie das Wasser sprach, der Wind sang, der Himmel schwieg. Ich wusste all das und ich habe all das niemals vergessen, in New York nicht, in Paris nicht, in Berlin nicht, in Chicago nicht.
Wurzeln erschaffen sich von alleine, sie sind unbestechlich, niemand kann sie sich zulegen, wenn sie nicht von selbst wachsen. Auf dem Marktplatz von Split, wenn ich am Wochenende mit meiner Tante in die Stadt fuhr, sagte sie, an Täuschungen wächst man im Leben, lass dir das gesagt sein, Kleine, die Täuschungen brauchen wir wie Wasser, sonst würden wir verdursten. Später, ja später, wenn wir wissen, was Täuschungen sind, sterben wir an ihnen, so wir nicht freiwillig auf sie verzichten. Du weißt einfach irgendwann, wie heiß Feuer ist, dein Wissen, nicht deine Angst beschützen dich, dass du deine Hände schön tief in den Hosentaschen vergraben hältst.
Ich weiß noch, dass ich, so eifrig ich nur konnte, nicht nur mit meinem Kopf, sondern mit meinem ganzen Wesen zur Tante aufsah und nickte. Ich hatte es wirklich verstanden, ich wusste, was die Tante mir sagen wollte, und ich wusste, dass es irgendetwas mit meinem Vater zu tun hatte, dass Tante mir das nicht grundlos erzählte. Es war schließlich sie, die immer wieder sagte, der Zufall sei etwas für Feiglinge, und auch das habe ich ihr geglaubt.
Ich spürte die Wahrheit in ihren Worten, spürte, dass man wie die Frau des Polizisten werden würde, wenn man an den Zufall glaubte, so, wie die arme Frau immer geglaubt hatte, der dicke Ehemann sei ihr Schicksal. Keine Ahnung, warum, aber schon im Alter von fünf Jahren wollte ich diese kleine Frau, die an den Wochenenden immer von ihrem ehrenwerten Polizisten verprügelt wurde, dazu überreden, nach Amerika zu gehen. Ich dachte sicher, Amerika ist das Land, in das man gehen muss, wenn man an den Wochenenden von seinem Ehemann verprügelt wird und allen erzählt, dass es ein Fremder gewesen ist, der einem das blaue Auge verpasst hat, obwohl der Ehemann ein Polizist ist, eine Person immerhin, die Menschen davon abhalten sollte, andere zu schlagen.
Wie gerne hätte ich damals auch meine Tante Filomena nach Amerika mitgenommen. Sie wäre aber niemals bereit dazu gewesen; ohne ihren Feigenbaum konnte sie nicht leben. Als ich nach Split zum Flughafen fuhr, sagte sie, pass auf dich auf, freue dich an allem, was dir begegnet, vergiss mich nicht und denk immer daran, der Olivenbaum ist niemals allein. Die Sache mit dem Olivenbaum war wichtig für mich gewesen. Als meine Eltern von heute auf morgen verschwanden und ich erst Monate später erfuhr, dass sie nicht nur fort waren, sondern im Grunde für immer ausgewandert, fühlte ich, dass in der Welt etwas für mich zeitgleich kleiner und größer geworden war. Ich ging hinter das Haus, zum großen Olivenbaum, setzte mich unter den Baum und rührte mich für Stunden nicht vom Fleck, selbst dann nicht, als es anfing zu regnen. Nach einiger Zeit fand mich die Tante, durchnässt saß ich da, weinend im nassen Gras. Ich war das Gras, der Baum und der Regen, sie, alle drei waren in diesem Augenblick ich. Tante umarmte mich, sie wollte mich trösten. Doch ich weinte nicht aus Unglück, ich weinte, weil ich glücklich war. Ein Gedanke war mir im Regen gekommen, der Olivenbaum, hatte es in mir gedacht, der Olivenbaum ist niemals allein. Ich erzählte es ihr. Sie umarmte mich noch einmal. Kein Baum ist je allein, sagte sie, besonders der Olivenbaum nicht. Ich spürte, dass sie Angst hatte, dass sie eine einsame Frau war, aber das hätte sie niemals mit Worten zugegeben. Nur einsame Menschen bewundern die Autonomie der Bäume, von denen sie nur deshalb so viel lernen können, weil sie allein sind, allein, auch unter tausend Menschen. Mit ihrem Satz über die Bäume leugnete sie nichts. Sie verpflichtete mich nur damit, in der Einsamkeit nichts endgültig Schlimmes zu sehen, und von diesem Augenblick an war ich auch nicht einsam wie sonst, bis ich Ilja traf.
Jeder
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