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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Verwandten sehen sie aus. Die Füße haben sie getragen, von Akademgorodok bis nach Nowosibirsk, und hier sitzt sie, an einem in Sowjetrussland erbauten Bürgersteig, und verkauft ihre roten Äpfelchen, die sie tagelang gesammelt hat, draußen in den Wäldern, wo die Früchte an den Bäumen wie Paradiesreminiszenzen hängen.

    Wer werde ich sein, wenn ich ihr die Äpfelchen abkaufe und so Teil ihrer Tage werde, auf diese Art eine minutennahe Fremde, die sie nie wieder sehen und schon zwei Gespräche später vergessen wird? Und ich? Ich werde sie nie vergessen, ich habe gesehen, wie ihre Füße die Erde berührt haben. Auf die gleiche Art und Weise wie meine Tante immer die Erde berührte, sommers, unter dem Feigenbaum, den meine Mutter, so erzählte man es mir, nach einem Mittagsschlaf aus Verwirrung einmal Birnbaum genannt hatte. Nun hieß der Feigenbaum fortan Birnbaum, und wir sangen uns durch die Nachmittage hindurch, aßen viel zu süße Kekse, und der Geruch sozialistischer Schokolade schwebte in der Luft, legte sich über den Tisch, den Baum und unsere zukünftigen Gedanken – nur wenige Minuten nach dem Kauf der Äpfel, in einem Café gegenüber dem Bahnhof Voksal, in dem die Transsib eine Heimat hat wie Ilja einen Ort in mir hat, dort also kam der Geruch sozialistischer Schokolade zurück. Das Gleichmaß, es ist überall. (Diese fixe Idee, die ich schon seit Urzeiten in mir trage.)

    Die Zugfahrt nach Amsterdam vermischte in mir die Zeiten, aufflammende Sprenkel vergangener Tage, alte Bilder, Beweise meines bisherigen Lebens, sie schossen in mir hoch. Kleine Flammen waren es, vielleicht stimmt es ja, was Marina Zwetajewa gesagt hat, vielleicht ist das, was ohne Feuer brennt, wirklich Gott. Die Flammen wurden größer, je länger die Zugfahrt zu Ilja dauerte. Ich wurde das Gefühl nicht los, von den Flammen verspeist worden zu sein, ganz schnell, noch auf der deutschen Seite, wie eine kleine Nachspeise, nichts Besonderes, mein Leben und meine Bilder erschienen mir wie alle Leben und Bilder der anderen Menschen, die dort mit mir im Zug saßen, eine Strecke und eine Zeit teilten, jeder an seinem Platz. Meine Auslöschung war schön, ich sah, dass ich mich festhielt, immer an der Vergangenheit festgehalten hatte, und dass die Vergangenheit mich genauso festhielt wie ich sie, aber ein anderer Weg, eine andere Art zu leben möglich geworden war.
    Die Zeit erfuhr ich körperlich als meinen metaphysischen Ankerplatz innerhalb der sichtbaren Ordnung. Wenn ich mein Schiff nur einen Meter weiter bewegte, bewegte auch die Zeit sich mit mir, zugleich blieb sie dort, am alten Ankerplatz, stehen und ich konnte weitergehen oder zu ihr zurückkehren. Der Zeit und dem Meer und auch dem Schiff, das ich mein Leben nannte, war das völlig egal. Mein Ich war zwar all das zusammen und auch zeitgleich, doch wurde es immer unberührbarer, je weiter weg ich mich bewegte. Mit einem Mal stieg ein bisher unbekanntes Gefühl des Glücks in mir auf. Es war das Glück, sich selbst fremd geworden zu sein. Jetzt entschied nicht mehr ich, Ilja und die Zugfahrt beschrieben mich wie ein Blatt Papier, das lange gewartet hatte, und das Papier sog alle Buchstaben auf, alle, die man ihm gab.

    Und so ist es auf dieser Zugfahrt und dann auch in Amsterdam und in der Zeit der schlimmen Sehnsucht gewesen. Alles geschah jenseits des Ziffernblattes, auf das ich immerzu starrte, während es im Toilettenraum des Zugs nach tagelang stehendem Urin roch, und nicht einmal der Schweiß meiner Mitreisenden störte mich. Dieses Mal wurde mir nicht übel. Der fremde Schweiß bewies mir zum ersten Mal nur das Leben der anderen Menschen, und dass jeder Reisende in diesem Zug auf seine Art und Weise dem Unbekannten entgegenfuhr.
    Während ich mir Iljas Augen und seinen Mund und die Wangen immer wieder in Erinnerung rief, sagte ich mir, dass ich zum ersten Mal wisse, was Leben sei, dass Leben auf etwas zufahren sei. Das machte mich augenblicklich ruhig und sonderbar glücklich. Es war wie Milchtrinken in der Kindheit. Jenes warme Gefühl in der Küche meiner Tante kam in mir auf, jene besondere Wärme, die im Raum entstand, wenn das eine oder andere Kälbchen in der Nachbarschaft oder bei der serbischen Frau zur Welt gekommen war. Die Dankbarkeit danach fiel mit einer dringlichen Frage zusammen.
    Wo war das neue Leben nur bloß hergekommen? Das beschäftigte mich nächtelang, natürlich, aus dem Bauch der Mutter, aber dennoch, da es so vollkommen und auch mit seiner

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