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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Nächte ohne Ilja, so viele Lieder im Vorübergehen, so viele Gesichter, in denen ich ihn erkannt habe, erkenne, erkennen werde. Manchmal vergehen Monate, bis ich ihn sehe, und dann ist jedes Wiedersehen wie ein Traum. Mein kleines Gedächtnis öffnet sich, das Gartentor meiner Erinnerung, ganz langsam wie die Gartentore in dalmatinischen Dörfern aufgehen, mit jenem kleinen Knacken, das der Regen im Laufe der Jahre ins Holz gegeben hat, so, mit diesem Erinnerungsknacken öffnen sich auch die Zimmer in unseren dalmatinischen Häusern, auf eine Art, wie es immer in den Sommern der Fall war, wenn alle warm und prall beieinandersaßen, obwohl die Wölfe um die Ecke waren. Tür für Tür öffne ich dann in jenem Haus, Gedanken öffnende Hände habe ich, und dann strömt dort jetzt wie damals das Licht hinein, Stück für Stück, so wie Lieder ins Freie, ins Offene der Luft strömen, ins große Leben, in die Welt. Das Draußen war für mich als Kind immer die ganze Welt. Sie wurde immer zum Himmel, als Wirtschaft und Vorplatz der Wolken empfand ich sie, so musste ich sie empfinden, so bin ich aufgewachsen, immer mit dem Blick zum Himmel. Wie sonst bin ich aufgewachsen? Aufgewachsen bin ich ohne ein Recht auf Unendlichkeit. Und die Bücher, Ilja, später, viel später mein Ilja, haben diese Unendlichkeit in mir geweckt, eine alte, tief in den Hüften sitzende Wirklichkeit, die sich mit meinem Knochenmark verbunden hat, die ich schon immer, immer bin. Nadeshda, Nadeshda hat Ilja einmal zu mir gesagt, als er mich solche Dinge sogar laut aussprechen hörte. Nadeshda, weißt du denn nicht, dass du gar nichts sagen brauchst, dass du doch schon immer Nadeshda warst. Wir lachten miteinander, immer, wenn wir uns nach Monaten wiedersahen, über meine Dummheit, über seine Dummheit, über meine Tränen und irgendwann auch über seine Tränen. Wir lachten viel. Und wenn wir uns trennten, waren wir nur halb da, wo wir waren, die andere Hälfte ging im anderen fort. Ging in der jeweiligen Zeit und am jeweiligen Erinnerungszaun bis zum nächsten Wiedersehen verloren. Aber das Verlorene versteckt sich nur irgendwo. Es ist nur für Momente, die sich manchmal in Jahre ausdehnen, unsichtbar geworden.

    Meine Tante wusste alles über das Album. Sie wusste es, die ganze Zeit über wusste sie es, und ich ahnte, dass sie es wusste, dass sie es mich hatte finden lassen, dass sie mir eines Tages die Geschichte erzählen würde, die ganze Geschichte, die zum Album und zu meinem Vater und also auch zu mir gehörte. Das Geld, das er über die Jahre für mich an die Tante überwiesen hatte. Die Regelmäßigkeit, mit der er zur Bank ging. Er hatte nicht einen einzigen Monat vergessen.
    Ich verstand erst später, warum ich das Dorf und die Tiere verlassen musste, warum man mich im Dorf nur verstohlen anschaute, wenn ich mit der Tante aus der Stadt kam und dort über die Wiesen ging, barfuß und immer die Wolken im Blick, als würde ich zu Freunden schauen. Im Genossenschaftslädchen gab man mir, was ich haben wollte, und obwohl jeder wenigstens offiziell ein Kommunist in diesem Dorf war, bekreuzigte man sich unverhohlen vor mir, wenn ich vor die Theke trat und auf die Produkte (so nannten damals selbst die Bauer ihre Erzeugnisse) zeigte oder auch nur kurz den Käse ansah. Möge dir die Kraft der Muttergottes beistehen, kleines Ding du, sagten die Leute. Sogar die Männer, die sonst nie in die Kirche gingen, sprachen plötzlich einen Satz laut aus, den sie dem heiligen Franziskus oder dem heiligen Antonius von Padua zuschrieben. Ich spürte sofort ihre Angst vor mir, spürte, dass ich anders bin, dass sie nicht wussten, wie sie mit mir reden, was sie mir sagen sollten, und ich drehte mich leichtfüßig um, tat, als hätte ich keine Wünsche, als hätte ich nie Lust auf Käse oder Schokolade gehabt, als hätte das Leben mir schon immer alles von sich aus gegeben, und als bräuchte ich mir nie etwas zu wünschen, als schenkte mir die Luft immer das Richtige zu essen. Aber ich hatte alle diese Wünsche, ich kannte den Mangel, die große Lücke. Sie drehten sich um, und einmal murmelte einer der Männer, wie will sie etwas über das Leben erfahren, wenn ihr nie jemand etwas über das Leben sagt. Ich tat, als hätte ich den Mann nicht gehört. Ganz oft tat ich das auch später, in meinem Erwachsenenleben, ich hatte mich daran gewöhnt, dass man mich unterschätzte, ich hatte diese geheimnisvollen Sätze früh begriffen und wusste, dass sie auch Spielraum

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