Das Geheimnis Dauerhaften Gluecks
sie sich nicht in endlosen Diskussionen über Kleinigkeiten und Unterschiede verloren haben, sondern immer schnell zu einem Konsens fanden.
Keiner von beiden schob seine individuelle Besonderheit in den Vordergrund, indem er dauernd darauf pochte, was er gern anders haben wollte. Sie konnten großzügig miteinander umgehen und sich in Details des Zusammenlebens einander gut anschließen. Es war beiden nicht so wichtig, ob sie bei einer Wanderung in diese oder jene Richtung liefen, es war nicht so entscheidend, ob der eigene Bedürfnisimpuls sofort Berücksichtigung fand. Beide hatten die große Gabe, sich wechselseitig die Führung zu überlassen. Eine völlig machtfreie, entspannte Gelassenheit im Umgang miteinander konnte sich so etablieren.
Dadurch war ihr Paarleben reibungslos und komplikationsfrei, was beide sehr genießen konnten und offensichtlichsogar in ihrer Umwelt Eindruck machte. Quälende Auseinandersetzungen über verschiedenartige Wünsche kamen nicht vor. Die Stimmung war unbelastet von unfruchtbaren Streits, wodurch sie ihre Begegnungen lange attraktiv erhielten. Dabei achteten sie darauf, nicht zu viel Zeit zusammen zu verbringen, pflegten ihre eigenen Interessen durch jeweils eigene Freizeitaktivitäten und versorgten zugleich ihre Paarbeziehung durch genügend geschützten Raum.
Wenn der Stern vom Himmel fällt
Zu viel Harmonie hat ihren Preis. Allzu viel davon ließ bei Michael und Ruth auf Dauer das eigene Profil verblassen. Der Leitstern verlor damit jedoch auch seine Strahlkraft. Es fehlte ihnen der Mut, eigene Wünsche zu formulieren, auch wenn sie sich voneinander unterschieden. Keiner traute sich so recht, dem anderen zu widersprechen, sondern passte sich dem Gegebenen an. Keiner forderte den anderen heraus, indem er versuchte, seine Interessen auch dann durchzusetzen, wenn jener etwas anderes wollte. Beiden fehlte der Mut, dem anderen ein autonomes Gegenüber zu sein, mit der Berechtigung, es sich selbst anstatt dem anderen recht zu machen.
So hätte Ruth sich Michael durchaus in den Weg stellen können, indem sie ihn darum bat, abends früher nach Hause zu kommen. Er hätte gespürt, dass sie ihn will und dass er ihr wichtig ist. Umgekehrt hätte Michael seinen Wunsch, die Musik mit Ruth zu teilen, klarer formulieren müssen, anstatt dies für sich zu behalten und darauf zu hoffen, dass sie auf ihn zukäme.
Gründe in der eigenen Geschichte
Ein Grund für diese gegenseitige Rücksicht lag bei beiden in ihrer Lerngeschichte. Ruth erfuhr in ihrer Kindheit, dass sie ihre häufig kranke Mutter nicht belasten durfte. Sie lernte früh, sich zurückzunehmen und sich die Zuwendung und Liebe der Mutter zu sichern, indem sie schwieg, sich anpasste, brav war und eigene Wünsche zurückstellte. Damals hätte jedes Verhalten, welches außerhalb der Erwartung der Mutter lag, eine für sie als Kind existenziell wichtige Grundlage zerstören können. Dieses Verhaltensmuster übertrug sie auf die Beziehung zu Michael. Auch hier war sie sich sicher, dass miteinander einig zu sein ihre Beziehung und Liebe dauerhaft sichern würde.
Michael seinerseits hatte einen jüngeren Bruder, der behindert war. Dies war für ihn der Grund, als Kind dem bedürftigeren kleinen Bruder den Vorrang zu geben und sich sowohl bei eigenen Wünschen als auch im gesamten Verhalten zurückzunehmen. Er kompensierte diesen Verzicht, indem er bei seinen Freunden – also außerhalb des Elternhauses – der lustige und ausgelassene »Michi« war, mit dem man gut feiern und Spaß haben konnte. Im Zusammensein mit Ruth wiederholte er jedoch die Rolle des »lieben Michaels«, der sich gut anschließen konnte und keine Mühe hatte, eigene Wünsche hintanzustellen.
Beide übergingen somit jeweils ihre Individualität und nach einigen Jahren fühlte Michael eine zunehmende Unzufriedenheit, die er aber aufgrund seines Kindheitsmusters nicht klar orten oder gar äußern konnte. Sein Lösungsversuch bestand darin, wie er es früher gelernt hatte, wieder in der Außenwelt seine Freiheit zu suchen. Dies entfernte ihn aber immer mehr von Ruth. Anfangs war diese Distanzierung noch sehr subtil, spätestens aber, als er Tina kennenlernte, brach aus ihm plötzlich all das hervor, was sich an ungelebten, nur vage gespürten und nicht kommunizierten Sehnsüchtenin ihm angesammelt hatte. Es hatte sich zu viel aufgestaut und er konnte nicht mehr zurück. So war die Trennung von Ruth ein für ihn notwendiger, aber auch schmerzlicher
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