Das Geheimnis der Burgruine
Spinnen. Mit einem Tritt wollte sie dem Nager den Garaus machen. Doch die Ratte wich mühelos aus. Flink huschte sie durch ein faustgroÃes Loch in eine Kiste hinein.
Hab ich dich!, dachte Isabel und schob einen alten, offenbar mit Büchern gefüllten Handkoffer vor das Loch.
Doch es schien einen zweiten Ausgang an der Kiste zu geben, rückseitig, denn die Ratte war schon wieder in Aktion, sprang über mehrere Kisten und Koffer, jagte einen Balken hinauf, verharrte auf einer Verstrebung und beäugte Isabel aus kleinen rötlichen Augen.
Dann verschwand diese geiserlingsche Hausratte im Gebälk des Dachstuhls und nur das Kratzen der Krallen war noch für einen Moment zu hören.
Mistvieh!, dachte Isabel. Irgendwann kriege ich dich.
Sie betrachtete die Kiste. Tatsächlich! An der Rückseite war ein zweites, faustgroÃes Loch - beide Löcher offenbar von der Ratte genagt.
Aber nur an dieser Kiste. Soweit Isabel sehen konnte, an keiner andern. Hatte hier die Ratte ihr Nest?
Isabel versuchte, die Kiste zu öffnen. Doch der verrostete Riegel war mit einem Vorhängeschloss gesichert.
Sie sah sich um und entdeckte eine kurze Eisenstange. Mit ihr konnte sie den Riegel aufsprengen.
Auf den ersten Blick war der Inhalt enttäuschend. Die Kiste enthielt Bücher, alte Atlanten und Mappen mit Schulzeugnissen, ausgestellt auf Beinharts GroÃvater Gottfried von Geiserling und 100 Jahre alt. Offenbar war er ein guter Schüler gewesen und hatte bis zum Abitur im Jahre 1908 eine traditionsreiche Internatsschule nahe der Landeshauptstadt besucht.
Isabel wühlte, blätterte und las.
Die Ratte war auch Papierfresser. Aus etlichen Büchern und Mappen hatte sie Konfetti gemacht. Vor allem, was schade war, aus Gottfrieds Tagebüchern, mit denen er anscheinend 1898 begonnen hatte, wie noch erhaltene Buchdeckel verrieten. Aber die Jahrgangsbücher selbst waren gröÃtenteils zernagt.
Bis auf eins.
Das war unversehrt, als wollte sich die Ratte gnädig erweisen.
Isabel hielt Gottfrieds Tagebuch von 1902 in den Händen, wischte Staub und Konfetti von dem dunkelbraunen Ledereinband und blätterte per Daumenkino durch die mit Tinte beschriebenen Seiten.
Viele waren leer. Auf anderen fanden sich nur belanglose Eintragungen über Mitschüler und Lehrer.
Dann - mit dem Datum vom 16. September 1902 - stieà Isabel auf einen zusammenhängenden, ausführlichen Text und begann zu lesen.
Es verschlug ihr den Atem.
Sie saÃen zu viert im groÃen Salon, dessen Parkettboden abgewetzt war wie in einem öffentlichen Gebäude, hielten mit Schnaps gefüllte Gläser in den Händen und stieÃen miteinander an.
»Auf meinen GroÃvater!«, sagte Beinhart. »Ich glaube jedes Wort, das er da hinterlassen hat. Und ich glaube auch, dass diese unterirdische Schatzkammer noch immer existiert. Wir werden sie knacken und Juwelen ernten, wie es sie heute gar nicht mehr gibt. Dazu kiloweise Gold. Ãbrigens steigt der Goldpreis weltweit. Isabel! Kameraden! Ich sehe unsere Zukunft in rosigem Licht.«
Alle grinsten. Sie tranken. Beinhart tätschelte Isabels Wange.
»Du bist meine Glücksfee. Vom schönsten Juwel kriegst du eine Kette.«
»Und ein Viertel von der Schatzkammer«, erwiderte sie.
»Selbstverständlich.«
Beinhart war ein groÃer, athletischer Typ mit kahl rasiertem Schädel, zweifach gebrochener Nase und dem steilen, kantigen Profil der Geiserlings. Er hatte graue Augen - kalt wie schmutziges Eis. Bei jeder Gelegenheit trug der Ex-Sergeant hochschäftige Stiefel. Seine Stimme klang befehlsgewohnt und duldete keinen Widerspruch. Ein schnarrender Tonfall.
»Sicherlich«, prophezeite er, »wird unser Vordringen unter Tage kein Spaziergang. Ich habe da so meine Vorstellungen. Immerhin«, er grinste selbstgefällig, »bin ich ein halber Bergbauingenieur. Der nächste Schritt ist jetzt: Ich begebe mich vor Ort und erkunde. Zwei, drei Tage kostet mich das, schätze ich. Vergnügt euch inzwischen. Ich nehme den Wagen.«
Sie hatten nur den einen, einen geräumigen Kombi, gebraucht gekauft. Zu mehr reichten ihre Finanzen nicht. Denn alle vier waren mehr oder weniger pleite. Isabel hatte noch nie überschüssige Mittel besessen. Beinhart hatte allen Gewinn aus seinen Plünderungen verpulvert. Er lebte stets groÃkotzig, wenn er was in der Tasche hatte, logierte in Luxushotels und warf mit Geld um
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