Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Klassenlehrer nett?«
»Was gab es denn heute Mittag in der Schule zu essen?«
»Was willst du später einmal werden? Verrätst du mir das?«
Während er eine Zitrone auf dem sautierten Hühnchen ausdrückte und sich eine Portion grüne Bohnen auftat, löcherte der Professor Root ungeniert mit allen möglichen Fragen. Er war immer bemüht, unsere gemeinsame Mahlzeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Obwohl Roots Antworten meistens sehr vage ausfielen, hörte der Professor ihm aufmerksam zu. Seine vielen Fragen sorgten dafür, dass unsere merkwürdige Tischgesellschaft – ein alternder Mathematikprofessor, seine alleinerziehende Haushälterin und ein Junge im Grundschulalter – beim Abendessen nie in unangenehmes Schweigen verfiel.
Aber er behandelte meinen Sohn nicht bloß wie ein Kind, das er bei Laune halten wollte, sondern machte Root auch darauf aufmerksam, wenn er sich beim Essen mit den Ellbogen aufstützte, mit dem Geschirr klapperte oder sich auf eine andere Weise unmanierlich benahm, und das, obwohl er sich ja selbst bis vor Kurzem nicht gerade vorbildlich verhalten hatte.
»Du musst tüchtig essen«, pflegte er zu sagen. »Ein Kind hat die Aufgabe zu wachsen.«
»Ich bin der Kleinste in meiner Klasse.«
»Das ist nicht schlimm! Wenn du jetzt Energie speicherst, wirst du bald schon einen ordentlichen Schuss in die Höhe machen. Es wird regelrecht knirschen, wenn deine Knochen wachsen.«
»War es bei Ihnen auch so?«
»Nein, leider nicht. Ich habe meine Energie anderweitig verbraucht.«
»Was meinen Sie mit
anderweitig
«?
»Meine besten Freunde konnten weder Baseball spielen noch gegen Büchsen kicken.«
»Waren Ihre Freunde krank?«
»Ganz im Gegenteil, sie waren groß, stark und unbesiegbar. Aber da sie in meinem Kopf wohnten, konnte ich auch nur dort mit ihnen spielen. Meine ganze Energie floss allein dorthin, nie in meine Knochen.«
»Ah, jetzt verstehe ich. Ihre Freunde sind Zahlen. Meine Mutter hat mir verraten, dass Sie ein toller Mathematiklehrer sind.«
»Du bist ein kluger Junge. Sehr klug sogar. Du hast recht, außer Zahlen hatte ich keine Freunde. Deshalb musst du zusehen, dass du groß und stark wirst. Iss also immer deinen Teller leer, auch wenn es dir einmal nicht so schmeckt. Und falls du dann noch Hunger hast, kannst du dir gerne etwas von meiner Portion nehmen.«
»Danke sehr.«
Root hatte ein Abendessen noch nie so genossen wie mit dem Professor. Er beantwortete geduldig dessen Fragen, aß ihm zuliebe sogar noch eine zweite Portion, wobei er neugierig im Zimmer herumschaute und verstohlene Blicke auf die Notizzettel am Anzug des Professors warf.
Morgen wollte ich Karotten in den Salat mischen. Wie würde der Professor darauf wohl reagieren? Ich lauschte der Unterhaltung der beiden und musste über meinen Gedanken schmunzeln.
Root hatte als Baby wenig Zuneigung erfahren. Als ich ihn zum ersten Mal in der durchsichtigen Kunststoffwanne auf der Entbindungsstation sah, empfand ich mehr Furcht als Freude. Es war erst ein paar Stunden her, dass er auf die Welt gekommen war, und seine Augenlider, die Ohrläppchen und Fersen waren noch ganz aufgeweicht vom Fruchtwasser, in dem er bis dahin gelegen hatte. Obwohl seine Lider halb geschlossen waren, schien er nicht zu schlafen, denn seine zierlichen Ärmchen und Beinchen strampelten in seinem viel zu großen Hemd herum, so als wollte er dagegen protestieren, an einem falschen Ort zurückgelassen worden zu sein.
Während ich meine Wange an die Glasscheibe der Säuglingsstation drückte, fragte ich mich, wie ich sicher sein konnte, dass dieses Baby meins war.
Ich war achtzehn, unerfahren und allein. Meine Wangen waren eingefallen von der allmorgendlichen Übelkeit, die mich bis zu dem Augenblick verfolgte, in dem ich im Kreißsaal lag. Mein Haar war verschwitzt und der Schritt meines Pyjamas hatte Flecken vom ausgetretenen Fruchtwasser.
In den fünfzehn Bettchen war er das einzige Baby, das wach war. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Außer den weiß gekleideten Schwestern, die im beleuchteten Dienstzimmer saßen, war keine Menschenseele zu sehen, weder im Gang noch im Foyer.
Seine Händchen waren zu Fäusten geballt, die sich kurz öffneten, um sich gleich wieder zu schließen. Die winzig kleinen Nägel waren dunkel verfärbt, wahrscheinlich war es das Blut meiner Schleimhäute.
Ich taumelte in Richtung Schwesternzimmer. »Entschuldigen Sie … Könnten Sie bitte die Fingernägel meines Babys schneiden? Er fuchtelt so mit
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