Das Geheimnis der Eulerschen Formel
seinen Ärmchen herum, dass ich Angst habe, dass er sich das Gesicht zerkratzt.«
Wollte ich mir in dem Augenblick selbst beweisen, dass ich eine gute Mutter war? Oder taten mir einfach nur die Schleimhäute weh?
Soweit ich mich erinnern kann, bin ich ohne Vater aufgewachsen. Meine Mutter hatte sich in einen Mann verliebt, den sie nicht heiraten konnte, sodass sie mich allein großziehen musste. Sie arbeitete in einem Saal, den man für Hochzeiten mieten konnte. Dort war sie zunächst als Mädchen für alles eingestellt worden. Mit der Zeit wurden ihr andere Tätigkeiten aufgetragen – sie war verantwortlich für die Blumenarrangements oder kümmerte sich um die Buchhaltung. Schließlich arbeitete sie sich hoch bis zur Geschäftsführerin.
Sie war ehrgeizig und hasste nichts so sehr, als wenn man ihre Tochter für arm und vaterlos hielt. Innerlich versuchte sie gelassen zu bleiben, aber nach außen wollte sie mit aller Macht den Anschein erwecken, wir seien wohlhabend, obwohl wir eigentlich nur sehr wenig Geld besaßen. So besorgte sie sich bei dem Stoffhändler, der die Kostümabteilung des Saals belieferte, Restposten, aus denen sie mir meine Kleider nähte. Mit dem Organisten vereinbarte sie, mir für wenig Geld Klavierunterricht zu geben. Und immer brachte sie Blumen, die nicht mehr gebraucht wurden, mit nach Hause, um unsere Wohnung damit zu schmücken.
Vermutlich habe ich meinen Beruf deshalb ergriffen, weil ich von klein auf allein den Haushalt führen musste. Bereits mit zwei Jahren wusch ich meine schmutzige Unterwäsche im benutzten Badewasser, und bevor ich in die Schule kam, konnte ich Schinkenwürfel hacken und gebratene Reisgerichte zubereiten. Als ich in Roots Alter war, hielt ich nicht nur unsere Wohnung sauber, sondern bezahlte auch die Rechnungen und nahm anstelle meiner Mutter an den Nachbarschaftsversammlungen teil.
Meine Mutter verlor nie ein schlechtes Wort über meinen Vater, sie bestand darauf, dass er ein gut aussehender, außergewöhnlicher Mann sei. Er war Unternehmer und führte angeblich irgendwo ein Restaurant, aber über konkrete Einzelheiten sprach sie nie. Immer erzählte sie nur Gutes über ihn: Er sei groß und schlank, spräche gut Englisch und wäre ein Opernliebhaber. Seine Ausdrucksweise und seine Manieren seien tadellos. Stolz und zugleich bescheiden, war er in der Lage, jedermann für sich einzunehmen.
Für mich war mein Vater wie eine Skulptur in einem Museum, die immer in derselben vortrefflichen Pose verharrte. Ganz gleich, wie dicht ich an ihn herantrat, er machte mit seinem in die Ferne gerichteten Blick nicht den Eindruck, als würde er mir jemals die Hand reichen.
Erst als ich in die Pubertät kam, fand ich es reichlich merkwürdig, dass dieser wunderbare Mensch uns im Stich gelassen hatte, ohne uns jemals auch nur die geringste finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Aber damals war es mir bereits egal, was für eine Person mein Vater tatsächlich gewesen sein mochte, und ich fügte mich stillschweigend, wenn meine Mutter sich ihre heile Welt zurechtlog.
Als ich schwanger wurde, zerbrach diese Illusion dann vollends, und mit ihr alles, was sich darum rankte: die aus Stoffresten gefertigte Kleidung, die Klavierstunden und die übrig gebliebenen Blumen. Es geschah kurz nach meiner mittleren Reife.
Er war Student an der Fachhochschule für Elektronik, ich kannte ihn von der Arbeit. Er war ein ruhiger, kultivierter junger Mann. Jedoch wollte er sich nicht der Verantwortung stellen, als es passierte. Sein ganzes geheimnisvolles Wissen über Elektronik, das mich zuerst so in den Bann gezogen hatte, verlor daraufhin seinen Reiz. Er war nur noch ein weiterer achtloser Kerl, der aus meinem Blickfeld verschwinden würde.
Obwohl ich mit meiner Mutter die Erfahrung teilte, ebenfalls ein vaterloses Kind zur Welt zu bringen, war ihr Zorn darüber grenzenlos. Vielleicht auch gerade deshalb. Ich konnte anstellen, was ich wollte, sie ließ sich nicht besänftigen. Es war ein von Leiden und Gram durchsetzter Zorn. Ihre Gefühlsausbrüche waren derart heftig, dass ich gar nicht mehr wusste, wie es um meine eigenen Gefühle bestellt war. In der 22. Woche meiner Schwangerschaft ging ich von zu Hause fort. Von da an gab es keinen Kontakt mehr zwischen mir und meiner Mutter.
Als ich nach der Entbindung mit meinem Baby in ein Wohnheim für ledige Mütter zog, hieß uns nur die Wirtschafterin willkommen. Ich faltete das einzige Foto, das ich von dem Studenten hatte, zusammen
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