Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
Vom Netzwerk:
in Flammen stand?
    Meine Skepsis gegenüber der Idee des Professors verschwand erst in dem Moment, als er und mein Sohn sich zum ersten Mal begegneten. Nun hatte er mein volles Vertrauen.
    Ich wollte mein Versprechen vom Vorabend halten und drückte meinem Sohn eine Wegbeschreibung in die Hand, damit er nach der Schule direkt zum Haus des Professors kommen konnte. Es verstieß zwar gegen die Vorschriften der Agentur, aber der Professor hatte es mir so nachdrücklich befohlen, dass ich es nicht wagte, ihm zu widersprechen.
    Als mein Sohn am nächsten Tag mit seinem Schulranzen auf dem Rücken im Eingang stand, erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Professors und er breitete seine Arme aus, um ihn willkommen zu heißen. Ich hatte nicht mal Zeit, ihn auf die Zeile
und ihr zehnjähriger Sohn
auf dem angehefteten Zettel hinzuweisen. Aus seiner Umarmung sprach die Fürsorge, jemanden zu beschützen, der schwächer war als er. Für mich als Mutter war es natürlich beglückend, mit anzusehen, wie herzlich mein Sohn in die Arme genommen wurde. Ich war fast neidisch, dass er mich nie so überschwänglich begrüßte.
    »Danke, dass du den weiten Weg gemacht hast«, sagte der Professor.
    Er verkniff sich sogar die Fragen nach irgendwelchen Zahlen, mit denen er mich jeden Morgen empfing.
    Mein Sohn, der ganz überrascht war über diese unerwartet stürmische Begrüßung, stand einfach nur stumm da. Allein seine Lippen bewegten sich, als er versuchte, die Begeisterung zu erwidern. Der Professor zog ihm die Baseballkappe mit dem Logo der Hanshin Tigers vom Kopf und strich ihm übers Haar. Dann sagte er, noch bevor er seinen richtigen Namen kannte: »Du bist Root. Das Wurzelzeichen ist ein äußerst großherziges Symbol, denn es beherbergt sämtliche Zahlen unter seinem Dach.«
    Und ehe ich mich versah, löste er den Zettel
Neue Haushälterin
und schrieb darunter
und ihr zehnjähriger Sohn
.
    Irgendwann machte ich uns Namensschildchen, um dem Professor das Leben zu erleichtern. Ich dachte mir, er würde sich besser fühlen, wenn er nicht der Einzige war, der mit Zetteln herumlief. Sobald mein Sohn Schulschluss hatte, tauschte er sein Klassen-Namensschild gegen das neue aus, auf dem das Zeichengeschrieben stand. Die Abbildung war mir durchaus gelungen, sie sprang einem förmlich ins Auge. Aber trotzdem konnte ich damit beim Professor keinen Eindruck schinden. Während ich für ihn weiterhin diejenige war, die nur recht mühsam mathematische Zusammenhänge begriff, brauchte Root einfach bloß anwesend zu sein, um in die Arme geschlossen zu werden.
    Mein Sohn gewöhnte sich schnell an das eigenwillige Begrüßungsritual des Professors, es schien ihm sogar Spaß zu machen. Er nahm sogar seine Baseballkappe ab und entblößte seinen flachen Schädel, um zu zeigen, dass er dem Namen
Root
alle Ehre machte. Der Professor seinerseits verpasste bei keiner Begrüßung die Gelegenheit, auf die Bedeutsamkeit des Wurzelzeichens hinzuweisen.
    Als wir das erste Mal zu dritt beim Abendessen saßen, würdigte der Professor meine Kochkünste mit zusammengelegten Handflächen und wünschte uns eine gute Mahlzeit. Mein Vertrag sah eigentlich vor, dass ich für ihn um sechs Uhr das Abendessen zubereiten sollte und nach dem anschließenden Abwasch um sieben Uhr meine Arbeit beendet sei, aber der Professor hatte sich dagegen gesträubt, seitdem mein Sohn uns Gesellschaft leistete.
    »Es geht doch nicht an, dass ich alleine hier vor mich hin esse, während Ihr Sohn mit knurrendem Magen daneben sitzt. Ehe Sie zu Hause sind und das Abendessen für Root machen können, ist es bestimmt acht Uhr. Das geht nicht. Es ist nicht bloß ineffektiv, sondern auch unvernünftig. Kinder müssen um acht ins Bett! Wir Erwachsene dürfen ihnen nicht den Schlaf rauben. Schon seit Anbeginn der Menschheit wachsen Kinder besonders gut, wenn sie schlafen.«
    Für einen Mathematiker war sein Argument nicht gerade wissenschaftlich fundiert, aber ich beschloss, mich beim Geschäftsführer der Agentur zu erkundigen, ob ich die Kosten für unser Abendessen von meinem Gehalt abziehen könne.
    Bei Tisch legte der Professor nun tadellose Manieren an den Tag. Er saß aufrecht, schmatzte nicht mehr und bekleckerte weder den Tisch noch seine Serviette, wenn er seine Suppe aß. Sein vorbildliches Benehmen versetzte mich umso mehr in Erstaunen, wenn ich daran dachte, wie schrecklich er sich aufgeführt hatte, als wir noch unter uns waren.
    »Wie heißt denn deine Schule?«
    »Ist dein

Weitere Kostenlose Bücher