Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Ich hatte mich nicht getäuscht: Die Dose hatte tatsächlich einen doppelten Boden.
»Was ist denn los?« fragte Root mit verwunderter Miene.
»Warte einen Moment.«
Meine Zurückhaltung war verflogen, und ich war neugierig, was da zum Vorschein kommen würde. Ich bat Root, mir das Lineal vom Schreibtisch zu holen. Damit hob ich vorsichtig den Boden an, ohne dass die anderen Karten herausfielen.
»Schau mal, hier liegt etwas darunter. Während ich die Karten anhebe, könntest du probieren, es herauszuziehen.«
»Okay, das schaffe ich.«
Root schob seine schmalen Finger in den Spalt und brachte einen Stapel Papiere zum Vorschein. Es war eine mathematische Abhandlung, auf Englisch und mit Schreibmaschine geschrieben. Das Deckblatt des etwa hundert Seiten dicken Manuskripts – offenbar war es ein Beweis – zierte eine Art Universitätssiegel. Der Name des Professors prangte in gotischen Lettern darauf, zusammen mit der Jahreszahl 1957.
»Ist das eine Rechenaufgabe, die der Professor gelöst hat?« fragte Root.
»Ich denke schon.«
»Aber wieso versteckt er sie denn an diesem Ort?« wunderte er sich.
Ich rechnete blitzschnell nach. Damals war der Professor neunundzwanzig Jahre alt. Da im anderen Zimmer kein Geräusch mehr zu hören war, blätterte ich rasch das Manuskript durch, wobei ich die Sammelkarte von Motoyashiki immer noch in der Hand hielt. Man sah ihm sofort an, dass es genauso sorgfältig aufbewahrt wurde wie die Sammelkarten. Das Papier war zwar vergilbt und die Schrift leicht verblasst, aber ansonsten wirkte die Abhandlung überhaupt nicht abgegriffen, sondern makellos rein. Ein königliches Erbstück hätte nicht besser ausgesehen als dieses Dokument.
Ich selbst hielt das wertvolle Stück ehrfürchtig in Händen, zu groß war der Schreck über Roots Malheur von eben. Die Abhandlung des Professors machte einen würdevollen Eindruck, auch wenn sie jahrzehntelang eingezwängt unter Baseballkarten in einer Dose gelegen hatte.
Was den Inhalt anging, so konnte ich auf der ersten Seite gerade mal die Überschrift Chapter 1 lesen, doch als ich weiterblätterte, begegnete mir mehrmals der Name
Artin
, dessen Gleichung der Professor mir damals nach dem Friseurbesuch im Park gezeigt hatte, indem er sie mit einem Stöckchen in den Sand malte. Ich erinnerte mich auch an die Formel, die er hinzugefügt hatte, nachdem ich ihm von meiner Entdeckung der vollkommene Zahl 28 berichtet hatte. Anschließend hatten heruntergefallene Kirschblüten die Zeichnung bedeckt.
Beim Blättern fiel plötzlich eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus den Seiten heraus. Root hob sie auf. Die Aufnahme zeigte den Professor in jungen Jahren. Er sah attraktiv aus, wie er da völlig entspannt mit ausgestreckten Beinen an einem mit Klee bewachsenen Flussufer saß und in die Sonne blinzelte. Sein Anzug ähnelte denen von heute, aber natürlich hafteten damals noch keine Zettel daran. Er sprühte förmlich vor Intelligenz. Neben ihm saß eine Frau, deren Schuhspitzen unter einem breiten Rock hervorschauten. Schüchtern neigte sie den Kopf in Richtung des Professors. Sie saßen zwar nicht aneinandergelehnt, hinterließen aber den Eindruck von Intimität. Obwohl das Foto vor vielen Jahren aufgenommen worden war, bestand kein Zweifel, dass es sich um seine Schwägerin handelte.
Es gab noch etwas, das ich neben dem Namen des Professors und Chapter 1 verstand. Oben auf dem Titelblatt stand eine Widmung:
Für N in ewiger Liebe. Du sollst mich nie vergessen
…
Die Karte, die wir dem Professor schenken wollten, war gar nicht so leicht aufzutreiben. Vor allem deshalb, weil er von Enatsu bereits so gut wie alle Sammelkarten besaß, zumindest aus der Zeit, als er bei den Tigers spielte, also vor 1975. Auf den Karten, die es danach gab, wurde immer erwähnt, an welche Vereine er verkauft wurde, und einen Enatsu im Trikot von Nankai oder Hiroshima wollten wir dem Professor auf jeden Fall ersparen.
Wir begannen unsere Nachforschungen in einem Magazin für Sammler von Baseballkarten. Dort erfuhren wir, welche verschiedenen Arten von Karten es gab, wie viel sie kosteten und wo man sie erwerben konnte. Außerdem lernten wir etwas über Sammlergewohnheiten und wie man die Karten am besten aufbewahrte. Am Wochenende kontaktierten wir alle Händler, die hinten im Magazin aufgelistet waren.
Diese hatten ihre Büros ausnahmslos in irgendwelchen heruntergekommenen Gebäuden, wo sich die unterschiedlichsten Berufszweige tummelten: Pfandleiher,
Weitere Kostenlose Bücher