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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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Nachmittag über ohrenbetäubend gezirpt hatten, waren nun still. Der Garten lag im gleißenden Sommerlicht, aber ganz weit hinten am Horizont war eine dünne Wolkendecke erkennbar. Sie befand sich genau an der Stelle, wo der erste Stern aufging.
    Kurz nach Roots Schulbeginn kam ein Brief vom
Journal of Mathematics
. Der Professor hatte für seinen Beweis, an dem er den ganzen Sommer über gearbeitet hatte, den ersten Preis gewonnen.
    Er selbst zeigte wie üblich keine Reaktion. Nachdem er das Schreiben überflogen hatte, legte er es wortlos und ohne die Miene zu verziehen auf den Tisch.
    »Es ist der höchste Preis in der Geschichte des
Journal of
…« Aus Angst, den ausländischen Titel nicht richtig auszusprechen, brach ich immer vorher ab.
    »Hm.« Der Professor hatte nicht mehr als ein Brummen für diese Neuigkeit übrig.
    »Aber Sie haben sich doch so angestrengt, um das Problem zu lösen. Gegen Ende haben Sie kaum gegessen und geschlafen, sondern von früh bis spät ausschließlich mit Zahlen gearbeitet. Im Schweiße Ihres Angesichts. Die Salzflecken davon sind immer noch auf Ihrem Anzug zu sehen.«
    Nachdem mir bewusst wurde, dass er seine Leistung selbst längst vergessen hatte, unternahm ich den Versuch, ihm dies in Erinnerung zu rufen.
    »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie dick und schwer der Brief war, den ich zur Post brachte. Und wie stolz ich war, als ich ihn am Schalter abgegeben habe.«
    »Ach? Nun ja …« Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
    Neigen alle Mathematiker dazu, ihre eigenen Leistungen herunterzuspielen? Oder ist das eine Eigenart des Professors? Bestimmt gibt es auch ehrgeizige Akademiker, die für ihre Errungenschaften Ruhm erlangen wollen. Sie hegen sicher den Wunsch, auch von Menschen, die sich nicht mit Mathematik beschäftigen, bewundert zu werden. Mathematik ist schließlich eine Domäne der Wissenschaften und keine Geheimlehre. Das Desinteresse des Professors lag wohl eher an seinem schlecht funktionierenden Gedächtnis.
    Immer wenn er einen Beweis erbracht hatte, zeigte er sich dem Ergebnis gegenüber erstaunlich gleichgültig. Sobald er die wahre Lösung des Problems gefunden hatte, dem seine ganze Leidenschaft galt, verlor er das Interesse daran. Er vergewisserte sich, dass ihm der Beweis gelungen war, und schlug dann stillschweigend eine andere Richtung ein, auf der Suche nach neuen Herausforderungen.
    Diese Haltung beschränkte sich nicht allein auf die Mathematik. Nachdem er Root in die Klinik gebracht oder ihn vor dem heranfliegenden Baseball geschützt hatte, fiel es ihm sichtlich schwer, unseren Dank anzunehmen. Es war weder Starrsinn noch Verschrobenheit. Er verstand einfach nicht, weshalb man so viel Aufheben um seine Person machte.
    Seine eigenen Leistungen waren ihm nicht wichtig. Was er konnte, das traute er anderen ebenso zu.
    »Das müssen wir feiern«, sagte ich.
    »Aber es gibt doch nichts zu feiern«, wehrte er ab.
    »Wenn jemand nach großen Mühen einen Preis gewinnt, dann will man gemeinsam mit ihm seiner Freude Ausdruck verleihen.«
    »Bei mir ist das anders, meine Freude hält sich in Grenzen. Mir wurde ein Einblick in Gottes Notizbuch gewährt, aus dem ich einige Zeilen abschreiben konnte, weiter nichts.«
    »Es gibt keine Widerrede, wir feiern das. Wenn Sie unsere Freude darüber nicht teilen, dann feiern Root und ich eben allein.«
    Ich versuchte den Professor umzustimmen, indem ich Root ins Spiel brachte.
    »Wir könnten es mit seinem Geburtstag zusammenlegen. Der ist am 11. September. Er würde sich bestimmt riesig freuen, wenn Sie dabei sind.«
    »Wie alt wird er denn?«
    »Elf.«
    Der Professor lehnte sich vor, blinzelte ein paar Mal und kratzte sich am Kopf. Schuppen rieselten aus seinem Haar auf die Tischplatte.
    »Genau, er wird elf«, wiederholte ich.
    »Das ist eine Primzahl, und zwar eine wunderschöne. Maruyama trug diese Nummer auf seinem Trikot. Ist das nicht herrlich?«
    Die Tatsache, dass jeder einmal im Jahr Geburtstag hat, erschien mir persönlich weit weniger bemerkenswert, als den ersten Preis für einen mathematischen Beweis zu gewinnen. So dachte ich im Stillen, hielt aber wohlweislich den Mund und nickte zustimmend.
    »Gut, dann geben wir eine kleine Party. Für Kinder ist das wichtig. Mit ihnen kann man nicht genug feiern. Sie freuen sich über leckeres Essen, einen Kuchen mit Kerzen und Geschenke. Das ist doch kein großer Aufwand, oder?« fragte der Professor.
    »Nein, natürlich nicht, Sie haben völlig recht«,

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