Das Geheimnis der Eulerschen Formel
erwiderte ich, nahm einen Stift und malte einen dicken Kreis um das Datum im Küchenkalender. Es war auffällig genug, um sogar die Aufmerksamkeit eines zerstreuten Professors auf sich zu ziehen. Er für seinen Teil schrieb einen neuen Zettel –
Freitag, 11. September, Party zu Roots 11. Geburtstag
– und heftete ihn in eine Lücke gleich neben seine wichtigsten Gedächtnisstützen.
»Hm, das ist gut.« Er nickte und betrachtete zufrieden den Zettel.
Root und ich beratschlagten uns und kamen dann auf die Idee, dem Professor zur Feier des Tages eine Sammelkarte von Enatsu zu schenken. Nachdem er in seinem Sessel eingeschlafen war, stahlen wir uns in sein Arbeitszimmer, wo ich meinem Sohn die Sammlung in der Keksdose zeigte. Er war sofort Feuer und Flamme und setzte sich auf den Boden, um Karte für Karte ausgiebig zu inspizieren. Vor lauter Begeisterung vergaß er sogar, dass wir es vor dem Professor geheim halten wollten.
»Der Professor hütet diese Karten wie einen Schatz. Pass bloß auf damit«, ermahnte ich ihn, aber er hörte mir gar nicht zu.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er Baseballkarten in den Händen hatte. Er wusste zwar, dass es Leute gab, die sie sammelten – vielleicht hatten ihm seine Freunde sogar welche gezeigt –, doch bisher hatte er kein Interesse dafür entwickelt. Er war nicht die Sorte Kind, das nur zum eigenen Vergnügen seiner Mutter Geld aus der Tasche zog.
Aber als er die Schatzkiste des Professors zu Gesicht bekam, konnte er nicht widerstehen. Mit dieser Keksdose öffnete sich ihm eine Welt des Baseballs, die einen ganz anderen Reiz besaß als jene, die er aus der Realität kannte. Gestochen scharfe Fotos, bahnbrechende Rekorde, legendäre Momente – all das auf einem handtellergroßen Rechteck, verpackt in Plastikhüllen, die im Sonnenlicht funkelten. Root war von jedem noch so kleinen Detail fasziniert. Und die Sammlung von Enatsu-Karten begeisterte ihn umso mehr, als er verstand, mit welcher Leidenschaft der Professor sie zusammengetragen hatte.
»Schau dir mal dieses Foto von Enatsu an. Man kann sogar erkennen, wie ihm der Schweiß herunterläuft.«
»Und dieses hier von Gene Bacque. Der legt sein ganzes Gewicht in den Wurf!«
»Das ist ja irre! Wenn man diese Karte gegen das Licht hält, dann erscheint Enatsu in 3D.«
Root ließ bei jeder Karte von Neuem seiner Begeisterung freien Lauf und wollte mir jedes Bild ausgiebig erklären.
»So, jetzt hast du sie alle gesehen. Pack sie bitte weg!« sagte ich schließlich, denn ich hörte nebenan den Sessel knarren.
Bald würde der Professor ins Zimmer kommen.
»Du kannst ihn ja fragen, ob er sie dir in aller Ruhe zeigt! Bring sie bitte nicht durcheinander. Die sind nach einem ganz bestimmten Ordnungsprinzip sortiert.«
Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, da rutschte Root die Keksdose aus den Händen – entweder vor lauter Aufregung oder weil sie schwerer war als erwartet. Die Karten waren jedoch so dicht gesteckt, dass nur an einer Stelle ein Packen herausfiel.
Wir sammelten sie hastig ein. Glücklicherweise war keine der Karten beschädigt. Der einzige Unterschied zu vorher war, dass wir die perfekte Ordnung des Professors durcheinandergebracht hatten. Und das machte uns unruhig.
Der Professor konnte jeden Moment aufwachen. Ich wusste, dass er Root seine Sammlung bestimmt gerne zeigen würde, wenn er ihn darum bat. Warum also die ganze Heimlichtuerei? Mein Zögern, ihn danach zu fragen, hatte ein unverzeihliches Missgeschick nach sich gezogen. Ich hatte mir eingebildet, der Professor würde wie ein kleiner Junge seinen Schatz an einem geheimen Ort versteckt halten und bestimmt etwas dagegen haben, wenn fremde Leute ihn anschauten.
»Hier haben wir Shirasaka.
Shi
kommt gleich nach Kamata Minoru.«
»Und wie liest man diesen Namen hier?«
»Das steht in kleiner Schrift daneben: Hondo Yasuji. Der muss weiter nach hinten.«
»Kennst du diesen Spieler?«
»Nein, aber der ist bestimmt berühmt, wenn es eine Karte von ihm gibt. Aber das spielt jetzt keine Rolle, wir müssen uns beeilen!«
Wir waren damit beschäftigt, jede Karte richtig einzuordnen, als mir plötzlich auffiel, dass die Dose einen doppelten Boden hatte. Gerade als ich die Karte von Motoyashiki Kongo zwischen die anderen stecken wollte, bemerkte ich, dass das Behältnis im Vergleich zur Größe der Sammelkarten viel tiefer war.
»Warte mal!« Ich gab Root ein Zeichen und bohrte meinen Finger in die Lücke, wo der Stapel herausgerutscht war.
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