Das Geheimnis der Eulerschen Formel
gegen einen Strommast zu stoßen, und ignorierte das Hupen der Autos, wenn er eine Straße überquerte. Als ob jede Sekunde zählte, um rechtzeitig zu Hause anzukommen. Sein Haar, das ich ihm gekämmt hatte, war zerzaust und sein Anzug völlig zerknautscht. Fernab vom Gartenpavillon wirkte er noch schmächtiger als sonst. Seine sich langsam entfernende Gestalt wurde eins mit dem grellen Sonnenlicht, einzig die leuchtenden Zettel verhinderten, dass ich ihn völlig aus den Augen verlor. Sie blinkten wie Leuchtsignale, anhand derer man die Position des Professors orten konnte.
Als ich den Sonnenschirm abermals aufspannte, fiel mein Blick zufällig auf das Ziffernblatt meiner Armbanduhr. Wie lange hatte die Behandlung gedauert? Zehn, zwanzig oder gar dreißig Minuten …? Ich ging in Gedanken noch einmal alles durch. Dann rannte ich los. Als der Professor um die Ecke bog und von der Menschenmenge verschluckt wurde, waren die flimmernden Zettel mein einziger Orientierungspunkt.
Während der Professor ein Bad nahm, stapelte ich ein paar alte Ausgaben des
Journal of Mathematics
ordentlich auf einen Haufen. Offenbar konzentrierte er sich immer nur auf die Preisrätsel und schenkte dem Rest keine weitere Beachtung, denn die Zeitschriften lagen ungelesen in seinem Arbeitszimmer herum. Ich sortierte sämtliche Ausgaben in chronologischer Reihenfolge. Dann schaute ich im Inhaltsverzeichnis der einzelnen Hefte nach, in welchen Ausgaben der Professor als Preisträger erwähnt wurde, und legte diese beiseite.
Er tauchte ziemlich häufig auf. Da die Namen der Preisträger fett gedruckt und mit einem Rahmen verziert waren, fiel einem das sofort auf. Der Name des Professors wirkte in gedruckten Buchstaben besonders eindrucksvoll. Und seine Beweisführungen waren trotz der fehlenden persönlichen Note, die sie in den handschriftlichen Aufzeichnungen hatten, in gedruckter Form noch grandioser. Sogar einem Laien wie mir wurde bewusst, welche Kraft seinen Beweisen innewohnte.
Im Arbeitszimmer war es viel heißer als im Rest des Hauses. Lag es daran, dass hier über einen längeren Zeitraum bei geschlossener Türe Stille geherrscht hatte? Als ich die Hefte, in denen der Professor nicht erwähnt wurde, in einem Karton verstaute, rief ich mir noch mal unseren Zahnarztbesuch in Erinnerung und überschlug die Zeit, während der der Professor behandelt wurde. Ich hätte genauer auf die kritische Zeitspanne von achtzig Minuten achten müssen, als ich mich im Wartezimmer aufgehalten hatte. Doch wie oft ich auch nachrechnete, ich kam immer nur auf einen Zeitraum von etwa sechzig Minuten.
Ich versuchte mir einzureden, dass der Professor zwar ein brillanter Mathematiker, aber auch nur ein Mensch war, sodass eigentlich kein Grund bestand, dass diese achtzig Minuten für immer und ewig Gültigkeit besaßen. Die Umstände ändern sich tagtäglich und damit auch die Personen, die ihnen ausgesetzt sind. Der gesundheitliche Zustand des Professors war bedenklich gewesen, denn er hatte unter starken Zahnschmerzen gelitten. Fremde Menschen hatten seinen Mund untersucht. Kein Wunder, dass seine Nerven verrücktgespielt hatten und das achtzigminütige Tonband in seinem Kopf nicht wie gewohnt abgespult wurde.
Der Stapel mit den Ausgaben, in denen der Professor erwähnt wurde, reichte mir bis zur Taille. Seine Beweise waren für mich wie Juwelen in den sonst eher langweiligen Zeitschriften. Sorgfältig stapelte ich die Hefte übereinander. Sie waren der Beweis dafür, dass die mathematischen Fähigkeiten des Professors trotz seines tragischen Unfalls keineswegs beeinträchtigt waren.
»Was tun Sie da?«
Der Professor war aus dem Bad gekommen und schaute ins Zimmer. Sein Mund war immer noch leicht verzogen von der Betäubungsspritze, aber die Wange war nicht mehr geschwollen. Offenbar hatte er keine Schmerzen mehr, denn seine Laune hatte sich sichtlich gebessert. Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr, er war nicht einmal eine halbe Stunde im Bad gewesen.
»Ich räume die Zeitschriften auf«, sagte ich.
»Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen. Es hat sich ja so einiges angesammelt. Die sind bestimmt schwer, macht es nicht zu viel Mühe, sie wegzuwerfen?«
»Wegwerfen? Um Gottes willen! Das kann ich nicht.«
»Warum denn nicht?«
»In vielen Ausgaben ist von Ihnen und Ihren großen Leistungen die Rede.«
Er schaute mich verdutzt an, sagte aber nichts. Aus seinem nassen Haar fielen Tropfen auf die Zeitschriften.
Die Zikaden, die den ganzen
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