Das Geheimnis der Götter
»Er ist in den Göttern«, schreibt Sylvie Cauville, »er ist der Nil, er ist Ägypten, er ist das Leben.«
Und was haben wir armen Sterblichen in dem Ganzen verloren? Dass Osiris gestorben und wiederauferstanden ist, daran gibt es keinen Zweifel. Sind wir fähig, seinem Beispiel zu folgen, das Experiment zu wiederholen und diesen Prozess unsererseits noch einmal zu durchleben?
Weder Glaube noch guter Wille genügen. Gewiss ist »die andere Welt, in der der Mensch, verwandelt in einen lebendigen Gott, ein ewiges Leben genießt, das Königreich des Osiris«, wie Jan Assman schreibt (9), aber die Pforte dieses Königreichs ist nicht leicht zu öffnen. Osiris empfängt nicht alle Verstorbenen, ohne beispielsweise zwischen Rechtschaffenen und Rechtsbrechern zu unterscheiden. Er nimmt ausschließlich jene auf, »die wahr an Stimme« sind, die Gerechtfertigten.
Man kann sich nicht selbst zum Gerechtfertigten ernennen. Zwei Tribunale können dies tun. Zunächst ein menschliches Tribunal, dessen Mitglieder so würdig und unbescholten wie nur möglich sind, nämlich die Priester und Priesterinnen des Osiris; und schließlich ein göttliches Tribunal, dem Osiris vorsteht, der Herr der Ma’at, der zugleich für Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit, Harmonie des Universums und Lebensregel steht. Diese Versammlung kennt keine Nachsicht, durchschaut unser Leben auf der Stelle und durchforscht die Gesamtheit unserer Taten, die in einem Haufen neben uns liegen. Bestimmte Fehler sind unverzeihlich, wie etwa Habgier, Verbrechen, böse Taten, Tierquälerei, Missachtung der rituellen Vorschriften, unterlassene Hilfeleistung gegenüber den Armen, Schwachen und Mittellosen. Es ist an uns, die Wahrheit der Lüge vorzuziehen, die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit, das Licht der Finsternis. Gutes tun beschränkt sich nicht auf eine moralische Lebensführung; es bedeutet vor allem, nach dem Vorbild des Bauwerke schaffenden Pharaos etwas zu erbauen, in welchem Bereich und auf welche Art auch immer.
Dann kommt der entscheidende Augenblick: das Wiegen unseres Herzens vor Osiris. Es geht nur um eine Frage: Wird es so leicht sein wie die Feder der Göttin Ma’at oder schwer aufgrund der Taten, mit denen wir die Harmonie zerstörten?
Das Tribunal des großen Gottes vergibt keine Schuld und hat keinerlei Mitleid mit Rechtsbrechern. Gewissensbisse und Reue sind vergebens, das Urteil wird eindeutig sein. Entweder wir haben uns durch unsere Taten selbst zum zweiten Tod verurteilt, und die Fresserin, ein hybrides Monster, wird uns verschlingen und zermalmen wie ein Biohäcksler. Oder wir werden als Gerechtfertigte anerkannt, Sieger über den stets gierigen Tod, und in den Himmel aufsteigen, wobei wir zahlreiche Hilfsmittel benutzen können, etwa einen Sonnenstrahl, eine riesige Leiter, eine Pyramide, den Rauch des Weihrauchs, den Körper einer Schwalbe. »Im Himmel lebt man, auf Erden existiert man.«
Die Himmelgöttin Nut lässt Osiris und seine Anhänger zu ihr aufsteigen und führt sie in das Land des Lichts, in dem weder Angst noch Streit herrschen. Es gibt keinen Stillstand, denn die Reise der Seele, die Entdeckung des Paradieses und die Verwandlungen gehen unaufhörlich weiter.
Kann man sich auf diese höchst gefährliche Prüfung vorbereiten? Ja, indem man sich in die Mysterien des Osiris einweihen lässt, lautet die Antwort der alten Ägypter, mit anderen Worten: indem man ihre Bedeutung durchdringt. In Abydos handelte es sich um zwei einander ergänzende Aspekte: um eine Zeremonie, die am ganzen Ort stattfand, und um geheime Rituale, die einer begrenzten Zahl von Männern und Frauen vorbehalten waren. Bei der Zeremonie trugen die Anhänger des Osiris die Barke des Gottes und brachten ihn in seine ewige Heimstatt. Die Verbündeten des Seth waren damit nicht einverstanden und setzten zu einem Angriff an, der zum Glück niedergeschlagen wurde. Nachdem der Weg nun freigeräumt war, rief man Osiris zum Sieger aus, ihm folgte sein Sohn Horus nach, der die Aufgabe besaß, die Harmonie auf Erden zu erhalten. Ein unaufhörlicher, nie endender Kampf, der selbst innerhalb eines heiligen Raumes tobt. Nach diesem Triumph konnte der Initiierte in die Barke steigen, die das Licht gebaut hatte, die Ruder ergreifen und die Paradiese durchfahren. Zudem war es Vorbedingung, dass der Reisende durch lange spirituelle Erfahrung vom Unsichtbaren zum Lichtwesen verwandelt wurde. Und genau das war Sinn und Zweck der Riten, die im Inneren des Tempels ausgeführt
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