Das Geheimnis der Götter
existierten, dem Tod entkommen und ihm nicht unterworfen sind? (4)
Da Osiris nichts Böses getan hat, wieso sollte es Isis nicht gelingen, ihn von den Fesseln des Todes zu erlösen? Die Witwe ist sich mittlerweile einer Sache gewiss: Der Tod ist eine Krankheit, von der man genesen kann. Damit beginnt eine lange und schwierige Suche, der die Forderung zugrunde liegt: zusammenzufügen, was zerstreut wurde. Zunächst muss sie ihren Gatten wiederfinden und zusammensetzen, was der Tod für alle Zeiten verstreut zu haben glaubt. Nachdem Isis aus jeder Provinz Ägyptens einen Körperteil des Pharaos Osiris zusammengetragen hat, nimmt sie die erste Mumifizierung vor, assistiert von ihrer Schwester Nephthys, deren Name
»Herrin des Tempels« bedeutet, und dem Gott Anubis mit dem Schakalkopf, einem großen Kenner der Wege des Jenseits. Osiris’ Mumie stellt eine erste Etappe auf dem Weg zum Sieg über den Tod dar. Er ist nun keine Leiche mehr, sondern ein Körper aus Licht, Träger der künftigen Wiederauferstehung. Auch die Anhänger des Osiris nehmen den Weg über diese Mumifizierung, in deren Verlauf sie eine Verwandlung durchlaufen und eine schützende Hülle erhalten, unentbehrlich auf der großen Reise. Die fertige Mumie wird im Übrigen belebt, denn die Ritualisten öffnen ihr Augen, Mund und Ohren, bevor sie sie in einen Sarkophag legen. Wir dürfen sie nicht für einen leblosen Stein halten oder einen »Esser toten Fleisches«, wie sie gemäß der griechischen Etymologie heißt, eine Fehlinterpretation der Hieroglyphenbezeichnung »neb ânkh«, Meister des Lebens. Im Innern des Sarkophags findet eine Verwandlung statt. Darüber hinaus spielt er die Rolle einer Barke, die durch das Universum fahren kann. Dergestalt überschreitet die Mumie, »der edle Körper«, die Grenzen von Raum und Zeit.
An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich an die Frage von Siegfried Morenz zu erinnern: »Wer wollte bezweifeln, dass es die ägyptischen Mumien waren, die das Christentum zu der Vorstellung von der ›Wiederauferstehung des Fleisches‹
inspirierten, eine Vorstellung, die man weder als alttestamentarisch noch als urchristlich und schon gar nicht als griechisch bezeichnen kann.« (5)
»Ich habe Osiris wieder zusammengesetzt, seine Glieder und seine Knochen zusammengetragen«, behauptete Isis. Aber kann es wirklich eine Wiederauferstehung geben? Dieser neue Körper, der dem alten Körper aus Fleisch und Blut so nah und zugleich so fern ist, wird er tatsächlich wieder Leben erlangen?
Auch hieran lassen die Pyramidentexte keinen Zweifel: »Du bist nicht tot gegangen, du bist lebend gegangen… Lebe das Leben, stirb nicht den Tod… Das Grab öffnet sich für dich, die Türen des Sarkophags werden für dich aufgezogen, die Pforten des Himmels werden für dich geöffnet.« Und das berühmte
»Totenbuch«, dessen authentischer Titel »Buch vom Hinaustreten ins Licht« lautet, präzisiert: Die göttliche Macht
»öffnet meine Augen, die geschlossen waren, streckt meine Beine, die angewinkelt waren. Dank meines Herzens bin ich wieder bei Bewusstsein. Ich lebe wieder und bin gerettet nach dem Todesschlaf.« (6) Der beste Beleg: »Du bist gegangen, aber du wirst wiederkommen!«
Ausgestattet mit solchen Formeln, »die millionenfach wirksam sind«, setzt Isis das Wort ein. Das Licht spricht zugunsten des Verstorbenen das große und vollkommene Wort aus, so fulminant, dass es einen Sonnenstrahl aufscheinen lässt, der die Mumie erleuchtet.
Will man versuchen, eine Ahnung von der Vereinigung von Isis und Osiris zu bekommen, die über den Tod hinausgeht und Garantin der Wiederauferstehung ist, muss man die Geheimkammern von Abydos erforschen, zu denen nur recht wenige Ägypter Zugang hatten. Aufgrund der Unruhen, für die die islamistischen Fundamentalisten in der Region sorgen, ist die Besichtigung des Tempels heute auf ein Minimum beschränkt und findet unter Polizeiaufsicht statt. Wieder stoße ich auf die Szenen, die den wesentlichen Akt erzählen, vielleicht den einzigen, der diese Bezeichnung verdient. Als Isis sich auf die Mumie legt, ist sie keine Frau mehr, sondern Stern und Falke. Osiris ist kein Mann mehr, sondern ein verwandelter Körper. Ihre übernatürliche, himmlische und stellarische Vereinigung bringt mitten im Tode das Leben hervor, und aus ihr geht Horus hervor, der auch der kosmische Falke ist, dessen Flügel so groß sind wie das Universum. Er ist der Beschützer des Pharaos und Erbe einer Liebe, die stärker ist
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