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Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman

Titel: Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Glück, dass sie von Haus aus nicht ungeübt in Benimmregeln war. Ihre Herrschaft duldete weder hochgeschobene Ärmel noch nachlässig sitzende Hauben. Die Schürze hatte schneeweiß zu sein, und niemals durfte der Knicks dem Gast gegenüber vergessen werden. Natürlich musste sie stets höflich zur Seite treten, um den Besucher einzulassen, und wenn ihr jemand eine Karte reichte, so hatte sie diese unverzüglich ihrer Herrschaft zu bringen.
    »Gute Dienstmädchen verstehen es, unsichtbar zu sein und trotzdem alles im Griff zu haben«, hatte die Frau Justizrätin am ersten Tag gemahnt.
    Manchmal, wenn Gäste kamen, musste Wemke bis spät in die Nacht bleiben, um Jacken zu reichen und jeden einzelnen mit einem Knicks zu verabschieden. An diesen Abenden brachte sie Freya zu einer Nachbarin.
    Sieben Tage die Woche dauerte diese Tretmühle. Nur der Donnerstagnachmittag gehörte vier Stunden lang ihr und natürlich der Sonntag. Allerdings durfte sie erst nach dem Abtragen des Mittagsgeschirrs gehen. Die freie Zeit verbrachte sie ausschließlich mit Freya, und nur dann war Wemke für eine kleine Weile wirklich glücklich.
     
    An diesem Abend schloss sie schon früh die Tür zu ihrer Dachkammer auf. Sie legte ihre schlafende Schwester in das kleine Kinderbett, hüllte sich in eine Decke und holte neugierig die
Zeitungsseite hervor. Erst jetzt wurden ihr die Zusammenhänge der Unterhaltung bewusst. Beschämt ließ sie das Blatt zu Boden fallen. Dann fing Freya zu weinen an, und alles andere war vergessen. Wemke eilte zu dem leise wimmernden Kind und riss es mit bebenden Händen aus dem Bettchen. Sie kannte die Anzeichen nur zu gut.
    »Still, mein Mäuschen, still. Ich weiß, dass es wehtut.«
    Immer diese Blähungen! Was gaben sie ihr nur, dass der kleine Magen damit nicht zurechtkam? Seit Wochen schon jeden Abend dieses Geschrei! Manchmal gelang es ihr durch bloßes Auf- und Abgehen, das Kind zu beruhigen. Doch meistens wurde aus dem Wimmern ein Gebrüll. Die anderen Mieter hatten sich schon beschwert.
    Wemke strich mit dem Finger leicht über Freyas heiße Wangen. Ob ihre Sorgen wohl jemals ein Ende finden würden? Wie fühlte es sich an, unbeschwert zu sein? Sie wusste es nicht, konnte sich nicht mehr an einen derartigen Zustand erinnern. Erschöpft wanderte Wemke mit dem kleinen Bündel im Arm im Raum umher. Wie müde sie war! Wann hatte sie zum letzten Mal ausreichend Schlaf gefunden? Vor einem Jahr? Ja, da war das Leben ein anderes gewesen. Nicht einfach zwar, aber ihre Eltern hatten noch gelebt, und die Sorgen hatten sich auf drei Schultern verteilt. Sie schloss die Augen und dachte an ihren Vater. Diesen lieben Menschen, der seine Krankheit so tapfer getragen hatte. Das ewige Husten, die langen schlaflosen Nächte. Buchhalter von Beruf, hatte er für die Familie einige Jahre lang einen gewissen Wohlstand erwirtschaftet. Ein Haus mit guter Stube und einer kleinen abgetrennten Kammer für jeden. Sie hatten sparsam, aber gut gelebt. Sonntags gab es Braten und Kuchen. Und an Weihnachten sogar Geschenke. Daran erinnerte sich Wemke mit Wehmut. Doch dann hatte das Husten angefangen. Anfangs nur hin und wieder, doch zuletzt konnte der Vater seine Arbeit nicht mehr ausüben. Wenn
ihre Mutter nicht gewesen wäre, dann hätte die Kindheit anders ausgesehen. Ihr kluge Mutter. »Ich bin ganz gut im Geldverdienen«, hörte sie noch deren stolze Worte. In den Jahren, da ihr Vater krank war, hatte die Mutter sich als Lehrerin verdingt. Auch Wemke war ihre Schülerin gewesen. Sie hatte von ihr nicht nur lesen und schreiben gelernt, sondern auch singen, tanzen, zeichnen und sticken. Bald konnte sie leichte Musikstücke auf dem Klavier spielen und erteilte den jüngeren Kindern Gesangsunterricht. Das Malen bereitete ihr besondere Freude, und dann die Bücher! In wie viele ferne Länder war sie in ihrer Fantasie gereist? Und die Gedichte! Die Worte berühmter Lyriker waren wie Wein, berauschend und schwer. Wie schön das Leben gewesen war, damals, bevor die Welt eine andere wurde. Etwas geschah, das die Eltern mit Freude, aber auch mit Furcht erfüllte. Nach neunzehn Jahren sollten sie noch einmal ein Kind bekommen.
    Wemke musste noch heute über die Verlegenheit lächeln, mit der sie ihr die Neuigkeit mitteilten. Wie viel Furcht in ihren Augen gelegen hatte. Furcht davor, die erwachsene Tochter könnte ein schlechtes Urteil über ihre Eltern fällen. Doch sie hatte sich ehrlich mit ihnen gefreut. Natürlich war da auch Angst um ihre

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