Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
ergab sich Wemke der Hoffnungslosigkeit, gegen die sie sich so lange gewehrt hatte.
Als keine Tränen mehr kamen, hob sie langsam den Kopf und ließ ihre Augen durch das schäbige Zimmer wandern. Die beiden alten Holzstühle, der kleine Tisch mit der bunten Decke, das Bett und die Waschschüssel unter dem Fenster. Dieser Raum war ihre Festung gewesen, ihr Zuhause. Hier hatte sie sich sicher gefühlt und immer wieder Kraft schöpfen können. Doch nun war es damit vorbei. Nichts war ihr geblieben außer der Sorge um das winzige Wesen in dem Bettchen an der kahlen Wand. Wemke ballte die Hände zu Fäusten. Sie würde sich nicht von Freya trennen, nicht um alles in der Welt!
Doch was sollte sie nur tun? Da sie nicht die Mutter war, würde man ihr die Schwester wegnehmen, wenn sie es nicht schaffte, sich und das Kind durchzubringen. Ihre verweinten Augen streiften die achtlos zu Boden geworfene Zeitungsseite. Gleichgültig hob sie das Blatt auf, und ihre Augen überflogen den Text: Junge Frau mit gutem Leumund …für eine Stellung auf der Insel Wangerooge gesucht …absolute Bindung…Sicherheit und Freiheit von finanziellen Sorgen … Angehörige sind willkommen. Sie stutzte und las den letzten Satz noch einmal ganz langsam. Angehörige sind willkommen. Den Blick fest auf die drei Worte geheftet, überschlugen sich Wemkes Gedanken. Wie im Rausch las sie die ganze Anzeige noch einmal durch. Etwas kleiner gedruckt war die Aufforderung, sich bei Interesse im Gasthaus Zur Post in Jever zu melden, um für den kommenden Donnerstag einen Vorstellungstermin zu vereinbaren. Wemkes Kopf schmerzte, aber sie zwang sich, den Gedanken weiterzuspinnen, der mehr und mehr Raum in ihrem Kopf einnahm. Sie trat zum Kinderbett, und ihre Hände schlossen sich so fest um das hölzerne Gitter, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Es war die einzige Lösung. Sie musste es tun. Der kommende Donnerstag, ihr freier Nachmittag. Diesmal würde sie ihn nicht mit Freya verbringen.
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D ie Frage nach der richtigen Kleidung stellte sich nicht. Ihr einziges besseres Kleid war aus blauer Baumwolle. Ihr einziges besseres Kleid war aus blauer Baumwolle. Es hatte einen weiten Rock und schmale Ärmel. Der kleine Kragen und die Knöpfe waren in einem etwas dunkleren Blau gehalten. Dazu trug sie eine kurze helle Jacke und zierliche braune Schuhe - Erbstücke ihrer Mutter.
Sie möge sich um sechzehn Uhr im Gasthaus einfinden, hatte der Wirt ihr aufgetragen und sie mit neugierigen Augen gemustert. Wemkes Hände begannen zu zittern und ihr Herz schlug wie wild, als sie an ihr Vorhaben dachte. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Unzählige Male hatte sie sich jetzt schon gefragt, ob es eine unschickliche Tätigkeit war, auf die sie sich bewarb. Aber sie durfte jetzt nicht an mögliche Nachteile für sich selbst denken, sondern einzig und allein an den großen Vorteil: Angehörige willkommen! Wenn der Inserent zu seinem Wort stand, dann würde sie sich nicht von Freya trennen müssen, und das war das Wichtigste.
Wemke betrachtete sich in dem fast tauben Spiegel und kam sich langweilig und trist vor. Ein Paar blauer Augen blickte ihr aus einem runden Gesicht entgegen. Sie hatte eine kleine spitze Nase, dafür aber einen recht großen Mund, der sich jetzt kritisch verzog. Ob jemand, der »gutes Aussehen« verlangte, überhaupt einen zweiten Blick an sie verschwenden würde? Ihr Haar, ja, das konnte sich sehen lassen. In weizenfarbenen Locken fiel es bis weit über die Schultern. Darum trug sie es
heute auch offen. Obwohl viele offenes Haar für liederlich hielten. Bei der täglichen Arbeit steckte sich Wemke das Haar stets hoch. Doch so sehr sie sich auch bemühte, immer wieder lösten sich kleine Locken aus der strengen Frisur. Wemke wandte sich entschlossen vom Spiegel ab. Es war zu spät, sich Gedanken über ihr Äußeres zu machen.
Entschlossen griff sie nach ihrer Haube und eilte die Treppe hinunter, wo ihr Blick auf die Wanduhr mit dem Porzellanzifferblatt fiel. Es blieb ihr noch eine halbe Stunde!
Es hatte vor kurzem geregnet und das noch nasse Kopfsteinpflaster glänzte in den ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages. Die Luft roch nach Regen und Rauch. Sie wählte den Weg am Wall entlang, vorbei an imposanten alten Bäumen und neu errichteten Häusern. Der hohe Turm des Schlosses ragte majestätisch über alle anderen Gebäude, doch Wemke hatte heute keinen Blick für ihre Umgebung. Beim Pferdehändler angekommen vermochte sie für einen
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