Das Geheimnis der Mondsänger
Arm in der Schlinge.
»Orkamor?« fragte Maelen.
»Er sorgt für seine Schützlinge, Freesha.«
Sie nickte ernst. »Böses ist hier geschehen. Wie steht es, Bruder?«
»Vieles, das seit undenklichen Zeiten stand, wurde vernichtet.« Seine Stimme war müde, und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. »Aber die Grundfesten konnten nicht erschüttert werden.«
»Und wer hat das getan? In Yim-Sin fanden wir furchtbare Dinge.«
»Man hat uns davon berichtet. Es waren Männer, die in Umnachtung handelten, angetrieben von dem Gift Fremder.«
»Sie sind vernichtet?«
»Sie haben sich selbst vernichtet. Denn sie achteten nicht auf die Absicherungen. Doch sie haben Trümmer auf ihrem Weg zurückgelassen.«
»Diejenigen, die – unter Umphras Schutz standen …«, begann sie zögernd.
»Der, nach dem dein Herz fragt, Freesha, lebt. Einige andere haben den Weißen Weg angetreten.«
Sie seufzte und rieb sich über die Stirn.
Maquad lebte also noch. Daran klammerte ich mich. Die Schmerzen waren wieder stärker geworden, und ich sank zurück auf meine Matte. Es schien, als seien meine Lebensreserven endgültig erschöpft.
Licht schien mir in die Augen, und ich wollte sie abwenden. Doch jemand hielt mich fest. Ich atmete einen aromatischen Duft ein, der meine Gedanken klarer werden ließ. Ich befand mich in einem Zimmer. Maelen beugte sich mit einer Schale über mich. Von der goldenen Flüssigkeit stiegen die kräftigenden Dämpfe auf.
Neben Maelen sah ich das alte, gütige Gesicht Orkamors. Ich versuchte, seinen Namen zu formen.
»Jüngerer Bruder …« Seine Worte klangen in meinem Innern auf, »… ist es wahrhaftig dein Wunsch, die Hülle, die du jetzt trägst, abzustreifen?«
Worte – Worte – aber ja, es war mein Wunsch. Natürlich! Ich war ein Mensch, und ich wollte den Körper eines Menschen. Ich legte meine ganze Kraft in diesen Wunsch.
»Dann geschehe es, Bruder und Schwester …«
Orkamor schien in die Ferne zu schweben. Wieder beugte sich Maelen mit der Schale über mich. »Krip Vorlund, sprich mir diese Worte nach: Im Namen der Macht, ich will ablegen Fell und Klaue, um wieder ein Mensch zu sein!«
Ich formte stockend die Worte.
»Trink!«
Sie hielt die Schale mit der aromatischen Flüssigkeit noch tiefer. Ich trank den Inhalt gierig leer. Es war wie kühles Wasser von einem Bergstrom. Erst jetzt merkte ich, wie durstig ich gewesen war.
Maelen stellte die Schale ab und brachte eine Mondlaterne näher.
»Sieh hier hinein«, befahl sie. »Sieh hinein und löse dich …«
Lösen? Was lösen? Aber ich richtete meine Blicke auf die Laterne. Es war eine Silberwelt, in die ich tauchte. Sie zog mich an, sie lockte mich …
Wer wandert auf Silberwelten, und was gibt es dort zu sehen? Aus der Tiefe kam dieser Gedanke zu mir. Ich holte tief Atem.
Und dann war es, als seien meine Sinne abgetötet. Ich konnte nicht mehr riechen. O gewiß, ich nahm ein Parfum wahr, aber nur ganz schwach.
Ich öffnete die Augen und wollte mit der Zunge über die Pfoten lecken. Pfoten? Mein Kopf lag auf einem menschlichen Arm. Ich sah eine Hand – Finger – Hand – Finger – ich war kein Barsk! Ich war ein Mensch.
Abrupt setzte ich mich auf. Ich war allein im Zimmer, und die Dimensionen kamen mir ein wenig verzerrt vor. Dann sah ich meinen neuen Körper an. Er war hell, ganz hell und so dünn, daß er zerbrechlich wirkte. Ich wollte einen Spiegel. Ich mußte mein Gesicht sehen.
Der Raum, in dem ich mich befand, war sehr klein. Das Bett nahm den meisten Platz ein. Eine Truhe stand an einer Wand, und sie diente gleichzeitig als Tisch, denn ein Becher mit einer Karaffe befand sich darauf. Vom Fenster wehte ein kühler Wind herüber. Ich klapperte mit den Zähnen und ging stolpernd zum Bett zurück. Dann wickelte ich die Decke um mich.
Ich trat an die Truhe und trank von der goldgelben Flüssigkeit, die in der Karaffe war.
Ich hörte ein leises Hüsteln und blickte auf. Es war der Priester mit dem verbundenen Kopf, der Maelen empfangen hatte.
»Der Älteste Bruder möchte dich sprechen, Bruder, wenn du bereit bist.«
Ich dankte ihm und zog mich an. Einen Spiegel entdeckte ich nirgends, doch ich konnte mir vorstellen, daß ich wie Malec aussah. Einer der knabenhaften Priester wartete auf mich und brachte mich in den kleinen Garten, in dem mich Orkamor schon einmal empfangen hatte. Wieder saß er auf dem Sessel aus lebendem Holz, doch die Blätter waren eingerollt und trocken. Maelen saß mit hängenden
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