Das Geheimnis der Salzschwestern
dann wirst du alles verstehen. Darunter ist auch ein Brief von Claire, eine Entschuldigung für das, was beim Tod deiner leiblichen Mutter geschehen ist.« Sie sah zur Tasche an der Tür hinüber. »Claire liebt dich, Jordy. Geh bitte nicht zu hart mit ihr ins Gericht. Sie wollte dir das alles eigentlich nie erzählen. Es nun doch zu tun, bricht ihr das Herz, aber es ist das einzig Richtige. Sie liebt dich genug, um zu riskieren, dass sie dich verliert.« Dann schloss sie leise die Tür hinter sich und ließ Claire und Jordy allein, um ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Claire fragte sich oft, wie es für Jordy wohl gewesen sein musste, sich von einem Jungen mit Eltern plötzlich in eine Waise zu verwandeln, auf einmal nicht mehr arm, sondern reich zu sein, und auch nicht mehr vaterlos, sondern ein Erbe, und das alles nur durch die Lektüre eines Packens alter Briefe. Sie hätte so gern gewusst, was er wohl bei der Enthüllung über den Tod seiner Mutter in der Scheune empfunden hatte, er verlor aber nie ein Wort darüber, und Claire hatte auch nicht den Mut, ihn danach zu fragen. Ethan hatte recht, dachte sie. Manche Dinge ließ man lieber unangetastet.
Irgendwann begriff sie jedoch auch, dass man die Vergangenheit nur dann zur Ruhe betten konnte, wenn man sie am Leben erhielt. Jordy verwandelte das Turner-Haus in ein Museum und befreite es so von all den Spinnweben. Es ragte zwar immer noch bedrohlich auf Plover Hill auf und sah mit all seinen Fenstern auf die Stadt herab, jetzt konnte aber jeder einfach hineingehen. Alle konnten in den staubigen Ecken herumstöbern, etwas in den riesigen Kamin hineinrufen und die Wände zum Hallen bringen. Die Turner-Insignien zierten mit ihren Spitzen und Zacken immer noch jede verfügbare Oberfläche, jetzt mischten sich aber die Namen der Gillys darunter und milderten den Effekt.
Genau wie das Haus war Jordys Leben einerseits klar durchstrukturiert, andererseits aber auch ein Durcheinander aus widersprüchlichen Elementen. Er war zwar wie geplant aufs College gegangen, innerlich hatte er sich jedoch verändert. Er hatte eine gewisse Leichtigkeit verloren, als wäre er sogar körperlich schwerer geworden. Statt wie vorgesehen sein BWL -Studium anzutreten, sattelte er auf Geschichte um, heiratete sehr jung und bekam seine Tochter. Seine Frau verlor er früh durch Krebs, so dass er mit dreißig allein dastand und in seiner Trauer nichts mit seinem Kind anzufangen wusste. »Komm doch nach Hause«, bat ihn Claire über eine knisternde Telefonleitung, die irgendwie an Feuer erinnerte.
Am anderen Ende herrschte lange Stille, und dann fragte Jordy: »Für wie lange denn?«
Und ausnahmsweise sagte Claire einmal genau das Richtige: »Lass doch das Salz entscheiden.«
Mit dem Packen Briefe und Zeitungsausschnitte hatten Claire und Jo an seinem achtzehnten Geburtstag den Grundstein gelegt, und Jordy hatte darauf aufbauend eine Sammlung von Erinnerungsstücken und Gegenständen zusammengetragen, die Prospects Geschichte vom Walfängeraußenposten der ersten Jahre bis hin zum aktuellen Sommerdomizil reicher Touristen dokumentierte. In St. Agnes war noch immer alles wie früher, genauso wie auf der Salt Creek Farm, aber abgesehen davon hatte Whit seinen Willen bekommen, dachte Claire. Prospect war jetzt ein Ferienort.
Inzwischen war das Erdgeschoss des Turner-Hauses am Wochenende und von Dienstag bis Freitag für Publikum geöffnet, während Jordy mit seiner Tochter Rose im ersten Stock wohnte. Sie brauchten nicht viel – zusammen belegten sie nur wenige Räume – und natürlich verbrachten sie die meiste Zeit draußen auf der Salt Creek Farm. Im Sommer hielt Jordy Konferenzen ab und organisierte Touren, und im Winter war er ganz für Rose da. Eines Tages, erklärte er, würde er vielleicht sogar ein Buch schreiben. Das versetzte Claire in Sorge. Was würde wohl geschehen, wenn jemand ihre Geschichte schwarz auf weiß zu Papier brächte?
»Aber warte damit noch«, mahnte sie deshalb jedes Mal, wenn Jordy auf das Thema zu sprechen kam. Denn so wie sie zwar regelmäßig Salz zu sich nahm, es ihr aber trotzdem nicht wirklich gehörte, hatte sie auch kein Anrecht auf die Geschichte der Turners. Irgendwann einmal würde Rose die Marsch erben, und dann würden all die Stränge der Vergangenheit – egal ob auf Gilly- oder Turner-Seite – zu einem einzigen langen Zopf verwoben auf ihre Schultern fallen.
Aber das lag noch in ferner Zukunft. Im Moment machte es Claire glücklich, durch die
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