Das Geheimnis der Salzschwestern
wissen, immerhin war sie einst … nun ja, nicht frei von Sünde gewesen, aber doch frei von allem, was diese mit sich brachte. Ihre Vergangenheit hatte ihre Zukunft noch nicht eingeholt, auch wenn sie das irgendwann tun würde, denn so ist das im Leben. Seltsamerweise hatte ausgerechnet ein Mann Gottes Claire diese Wahrheit der Sterblichen gelehrt.
Jahrelang hatte sie sich dem Salz verweigert. Jo hatte es jedes Jahr am Vorabend des 1. Dezember in die Flammen geworfen und die Konsequenzen ihrer Prophezeiung getragen, bis Claire diesem ganzen heidnischen Spuk ein Ende gemacht hatte. Kein Feuer mehr. Kein Salz. Sie hatte der Tradition völlig den Rücken gekehrt. Gewisse Elemente konnte man jedoch nicht ignorieren, das hatte Claire auf die harte Tour gelernt – man kann das Land nicht verleugnen, auf dem man geboren wurde, denn a us der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden .
Das alles lag jedoch längst Jahre zurück. Inzwischen gehörte sie eher zur reiferen Sorte der Frauen mittleren Alters, die ganze Stadt hatte sich zusammengerottet wie ungezogene Kinder nach überstandenem Hausarrest, und Claire befand sich mitten unter ihnen, war vielleicht sogar eine von ihnen. Jo ebenso. Claire spürte die Präsenz ihrer Schwester, die ihr bei der Aufgabe den Rücken stärkte. Die Menschen in Prospect pressten voller Erwartung die Hände unters Kinn, als ein runzeliger Timothy Weatherly die Fackel an die Scheite hielt. Es knisterte, und dann konnte Claire den Rauch riechen: eine Mischung aus Erlenholz, Ulme, Kiefer und Harz. Zunächst war der Geruch beißend und rau, als die Flammen dann höher stiegen, wurde er jedoch süßlicher, die Hitze zog das Öl aus den Hölzern und verteilte es in der eisigen Winternacht. Der Duft nahm zu und stieg auf, er wusch die Sünden und den Kummer des vergangenen Jahres ab. Claire sog das Aroma wieder ein, nahm eine gewisse Zimt-Note wahr, und dann flackerte unerwartet eine reine Ozonflamme auf. Nun war es an der Zeit, mit ihrer Handvoll Salz vorzutreten.
Die Nacht war seltsam klar und der Himmel so sternenübersät und farbenfroh wie die Kleider, die sie einst in einem anderen Leben getragen hatte. Die fröhliche Kakophonie der Menge – das Gequäke eines Kindes, die schrägen Töne einer Flöte, die Fußballgesänge einer Gruppe Teenager – wurde leiser und verstummte, als sie ihren Platz einnahm und das Salz hochhielt, so dass jeder es sehen konnte. Und dann ging ein plötzliches, schreckliches Raunen durch die Menge, als die Flammen gelb aufblitzten.
Gelb stand für Vorsicht, für mögliche Gefahr. Claire sah zu Jo hinüber und schüttelte den Kopf. Vielleicht ein Todesfall, vielleicht großes Pech. Irgendetwas Unerwartetes. Wen würde es treffen, fragte sich Claire, als sie nach Jos Hand griff. Mr Weatherly mit seinen ächzenden Hüften und rostigen Werkzeugen? Die hübsche Hope Fell, die doch in zwei Monaten aufs College gehen sollte? Eine der jungen Mütter in der Stadt, die nach der Schwangerschaft immer noch müde und rundlich waren? Bevor Claire sich weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, setzte das Spiel der Flöte erneut ein und die Nacht umfing sie. Bald ertönten wieder Gelächter, Geschrei und das Weinen eines Säuglings, während Jo und sie in der Dunkelheit verschwanden und sich auf den Heimweg machten. Denn das Leben ging weiter, selbst in Prospect, trotz der Weissagung des Salzes.
Nur eben nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten.
K APITEL 1
L etzten Endes, dachte Jo, würde sie ihr Leben wohl einfach eine Geschichte des Salzes nennen. Teile schmeckten auf der Zunge bitter, manche waren rau, und andere würden sich im Laufe der Jahre einfach aufgelöst und keinerlei Spuren hinterlassen haben. Übrig geblieben waren die konzentrierten Elemente, Kristalle, die zwischen den Zähnen knirschten und glänzten. »Schotter« nannten das die Leute in Prospect, aber es war weit mehr als das, darüber war sich Jo im Klaren. Dieses Salz war eine Verkörperung von Kummer und Leid, greifbar gewordene Geschichte. Darin lag alles, was sie und ihre Schwester sich hätten sagen sollen, was aber nie ausgesprochen wurde.
Aber so funktionierte das Schicksal nun mal. Es war raffiniert und ein wenig hinterhältig – oder etwa nicht? Oft kam es ausgerechnet dann mit etwas Neuem an, wenn man sich doch eigentlich erst um das Alte kümmern sollte. In Jos Fall war dieses Neue ein Brief von der Harbor Bank in Boston. Der schlichte Umschlag brachte Worte von
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