Das Geheimnis der Salzschwestern
wenig besser da als sie. Ihnen gehörte zum Beispiel noch immer der felsige Hügel, auf dem ihr Haus erbaut war, die Sanddünen, die links und rechts an die Straße grenzten, ein Teil von Drake’s Beach und die Pier in der Stadt sowie auch ein Großteil der Stadt selbst. Tatsächlich war das Einzige, was ihnen in der näheren Umgebung nicht gehörte, die Salt Creek Farm, auch wenn sie sich redlich darum bemüht hatten, das Gut zu kaufen.
Ob man nun an Flüche glaubte oder nicht – und Jo tat es –, niemand konnte verleugnen, dass zwischen den beiden Familien böses Blut herrschte und dass Unglück und Zwist bereits seit Urzeiten zwischen Gillys und Turners standen. Es war eine Fehde zwischen Körper und Seele, denn während die Turners das finanzielle Herzstück von Prospect waren und Geld in die Stadt pumpten, verkörperten die Gillys die spirituelle Seite – unantastbar, unergründlich und über solch weltlichen Schund wie die Turner-Dollars erhaben. Und so wie der Kopf manchmal mit dem Körper auf Kriegsfuß steht, obwohl er auf ihn angewiesen ist, so verdross in Prospect die Anwesenheit der einen Familie die andere. Während die Turners darauf angewiesen waren, dass das Salz der Gillys mit seinem Zauber den Wohlstand der Stadt gewährleistete, brauchten die Gillys das Geld der Turners, um im Geschäft zu bleiben. Sie hatten nur gemein, dass die Menschen in der Stadt beide nicht leiden konnten.
Trotz allem hatte Jo es Claire nie übel genommen, dass sie eine so unkluge Entscheidung getroffen und Whit geheiratet hatte. Als Whit klar geworden war, dass er Jo nicht haben konnte, hatte er auf typische Turner-Manier umdisponiert. Er hatte Jo auf dieselbe Art einfach das weggenommen, was sie am meisten liebte, wie er früher im Ramschladen Gummibonbons stibitzt und sie dann eins nach dem anderen in aller Seelenruhe vor der Ladentür verspeist hatte, ohne sich darum zu scheren, wer ihn dabei sah, und ohne zu teilen – nicht einmal mit Jo.
Bevor sie eine Schwester ziehen lassen musste, hatte Jo bereits einen Bruder verloren. Henry und sie wurden während eines schlimmen Nordoststurms im März 1942 geboren. Jos Mutter erzählte immer, dass damals drei Tage lang die Welt stillgestanden habe. Die Telefonverbindung war abgebrochen, am ganzen Kap war der Strom ausgefallen, die Stra ßen waren unpassierbar, Kirchen und Läden geschlossen. In Hyannis waren sogar die Krankenhaustüren zugefroren, was aber eigentlich egal war, da sich sowieso niemand hinauswagte.
Allseits bekannt war die Tatsache, dass der Sturm in der kleinen St.-Agnes-Kapelle das Antlitz der Muttergottes zerstört hatte. »Oh, das war wirklich furchtbar, mein Kind«, erklärte Pater Flynn Jo, als sie ihn einmal nach dem Vorfall fragte. Er hockte sich hin und sah sie gelassen an. »Ich war während des Sturms nicht hier, ich hatte in der Stadt etwas für die Gemeinde zu erledigen, und als ich zurückkam, waren die Fenster völlig zerstört, die Vordertür stand weit offen und Unsere Liebe Frau war von der Hand Gottes berührt worden. Ich habe sie so belassen, damit sie uns immer an seine Macht erinnert.« Er verstummte kurz und runzelte die Stirn. »Na ja, und außerdem haben wir auch nicht die Mittel, um sie wieder herrichten zu lassen, aber vielleicht bekommen wir das Geld ja bald zusammen. Eines Tages.« Er beugte sich vor, legte Jo die Hand auf den Scheitel und lächelte mild. »Dann wollen wir mal mit deinem Katechismus beginnen.« Er verstummte wieder kurz, und Jo dachte schon, dass er noch etwas zu der Geschichte hinzufügen würde, er sagte aber nichts weiter, und sie ließ enttäuscht den Kopf hängen. Für Pater Flynn waren die Ereignisse um Unsere Liebe Frau also das einzig Besondere an ihrer Geburt.
Als Jo älter wurde, erzählte ihre Mutter ihr eine komplettere Version der Geschehnisse und sparte dabei nichts aus – das dachte Jo zumindest. Als sie schließlich herausfand, wie kreativ ihre Mutter mit der Wahrheit umging, war Jo bereits selbst eine Expertin in der Kunst des Lügens. Jeden Abend zur Schlafenszeit setzte sich ihre Mutter an ihr Bett und enthüllte ein weiteres kleines Fragment ihrer Familiengeschichte, wenn Jo in ihren Augen dafür bereit war. Jo brauchte bis in ihre Teenagerjahre, um die unschönen Einzelheiten zu verdauen.
Aus den Erzählungen ihrer Mutter erfuhr sie, dass der Sturm auch auf der Salt Creek Farm sein Unheil mit dem Wenigen getrieben hatte, was ihm die Landschaft hier bot. Die Batisranken waren zu Venen aus
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