Das Geheimnis der Salzschwestern
wenn sie nach einem ihrer üblichen Saufabende aus Fletcher’s Tavern traten und im Rausch über ihre Schnürsenkel stolperten. »Trinkt sie das Blut von Frühlingslämmchen?« Jo wusste ganz genau, was die Kumpel ihres Vaters von den Frauen der Familie hielten. Für die waren sie Stolpersteine auf ihrem Weg, unheimliche Schatten, die ihre Wände heimsuchten, wenn sie nachts nicht schlafen konnten. Denn die Gilly-Frauen kannten ihre Zukunft. Wenn Jos Mutter mit dem Truck vor der Kneipe stand und wartete, jaulte stets einer seiner Kumpane: »Wie konntest du nur, Tommy? Warum hast du bloß diese Hexe geheiratet?«
»Das war das Salz«, antwortete Jos Vater dann, und das brachte alle zum Schweigen. Denn wenn eines den Männern in Prospect die Sprache verschlug, dann war es das Gilly-Salz, das jedes Jahr am Vorabend des ersten Dezember aufflackerte, Butter zu Sahne schlagen und völlig unberechenbar offene Wunden heilen oder verschlimmern konnte, ohne dass je einer wusste, was der Fall sein würde.
»Ja«, nickte Jos Mutter und löschte das Licht. »Es war das Salz, das stimmt. Nur leider weiß auch ich nie im Voraus, was es mit sich bringt.«
Jo kuschelte sich in ihre Decke und versuchte einzuschlafen. Mama hatte wie immer recht. Die Gillys wussten wirklich nie so genau, was das Salz noch für sie bereithielt. Denn sonst, dachte Jo, wäre ihr Leben wohl ganz anders verlaufen. Nicht zuletzt hätte sie dafür gesorgt, dass ihr Bruder am Leben geblieben wäre.
In dem Sommer, in dem Henry ertrank, waren Jo und er acht Jahre alt. Das war im August 1950, als alles ringsumher, was nicht längst verdorrt war, gerade unter der sengenden Sonne brutzelte. In jenem Jahr war es für Jo eine besondere Qual, mit ihrer Mutter in der Stadt einzukaufen und dort den Stadtkindern mit ihren hübschen Badeanzügen und Sandalen zu begegnen. Nicht nur wegen der Hitze, sondern weil sie sich zum ersten Mal der Unterschiede zwischen deren und ihrem eigenen Leben bewusst wurde. Es störte sie nicht besonders, aber es fiel ihr auf. Die anderen Kinder in ihrem Alter machten sich mit ihrer Mutter auf den Weg zum Strand, trugen hübsch geflochtene Zöpfe und hatten Plastikeimerchen dabei, während Jo zu ihrer Welt aus Schlamm, Fliegen und Arbeitsklamotten zurückkehrte.
Sie hatte keine Zeit für Spielzeug. Statt eines Sandeimerchens hatte sie eine Holzschüssel und eine Schubkarre, die sie von den Becken zur Scheune hinüberschob. Tatsächlich gehörte zu ihren Utensilien auch ein verbeulter Eimer, aber der diente dazu, Muscheln oder die Schnecken im Garten einzusammeln. Im kühlen Gang des Lebensmittelladens fragte sie sich, wie es wohl wäre, eine Mutter mit zarten Händen zu haben, die geblümte Kleider statt Männerhosen trug und die von den anderen Müttern mit einem Lächeln begrü ßt wurde. So war es bei ihnen nämlich nie. Wenn Mama sich der Theke näherte, zogen die anderen Frauen ihre Töchter näher zu sich heran und wandten den Blick ab. »Kümmer dich gar nicht um die«, flüsterte Mama dann, und fuhr mit ihr schnell wieder heim, zurück zum Salz, das doch an all ihren Problemen schuld war.
Jener August war so heiß und trocken, dass sie davon doppelt so viel ernten konnten wie sonst. Jos Mutter kratzte es jeden Abend aus den Verdunstungsbecken, kam mit der Arbeit aber einfach nicht nach – nicht einmal mit Jo an ihrer Seite. Jos Vater war ihnen keine Hilfe. Zum einen war er ein Mann und durfte deshalb nicht in den Bassins arbeiten, zum anderen war er faul und ließ sich auf dem Gut auch nur selten blicken. Man konnte ihm das aber nur zum Teil vorwerfen, denn das Salz war ausschließlich für Frauenhände bestimmt. Jos Vater konnte zu Beginn der Saison den Schlamm aus den Rinnen schaufeln oder die Dämme zwischen den Becken ausbessern, Mama und Jo waren jedoch diejenigen, die die Kristalle aus den Becken holten, vor allem die zarten und reinen Flocken, die oben auf der ansonsten groben Masse tanzten.
»Männer sind zu sehr daran gewöhnt, sich ihren Weg mit Gewalt zu bahnen«, erklärte Mama, als sie ihre Finger um Jos Hände auf dem Griff der hölzernen Harke schloss, das Arbeitsgerät dann über die Oberfläche des Verdunstungsbeckens schob und die Kristalle zu ihnen heranzog, ohne dass sie dabei nass wurden. »Frauen wissen besser, wie man seinen Willen bekommt, ohne dabei etwas aufzuwühlen.«
»Henry ist aber gar nicht so«, wandte Jo ein und umklammerte den Holzgriff. Ganz im Gegenteil, dachte sie, ihr Bruder war
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