Liebe Leserinnen und Leser,
Das Leben ab 50 ist ein spannendes Experiment. Die Zeit wird kostbarer, und wir erfahren daher vieles intensiver. Es stellen sich Identitätsfragen, von denen wir früher keine Ahnung hatten. Das beginnt bei ganz praktischen Dingen: »Was tue ich modetechnisch mit der Verdickung in der Körpermitte?« oder »Macht es Sinn, als reife Frau einen Flirt mit gleichaltrigen Akademikern zu wagen?« Vielleicht kennen Sie auch das Unbehagen: »Ist bei den anderen noch mehr los im Bett?« Was umgehend zur Frage führt: »Ist Humor in der Partnerschaft wichtiger als Sex?«
Die zweite Lebenshälfte ist die richtige Zeit, um die gängigen Maßstäbe für Liebe, Selbstwert und Erfolg zu überprüfen. Wir können uns neue Regeln schaffen dafür, wo wir Zuneigung und Nähe finden, mit welchem Blick wir unseren Körper betrachten, wo das Glück liegt und wo sicher nicht. Um diese Gegenkultur der »Generation Gleitsichtbrille« geht es in diesem Buch.
Dazu gehören Nahbeziehungen, die nicht so recht in eine der üblichen Schubladen passen: Es gibt Ehen mit und ohne Sex, virtuelle Flirts, Frauenfreundschaften mit Shiatsu-Abenden und die eheähnliche Neoallianz mit dem Hund. Wir brauchen Alternativen zur Zweisamkeit. Aber kann sich ein Mensch jenseits der 50 noch in ein kollektives Wohnprojekt einfügen? Wo wir doch in den späteren Jahren immer mehr Eigenheiten entwickeln. Ich zum Beispiel führe morgens vor dem Spiegel manchmal innere Dialoge mit meinem Fett- und Faltenmonster. Und meine Freundin Britt schwört auf ihr Sauerkrautritual, wenn ihre Laune absackt.
Manch eine geht in der zweiten Lebenshälfte auf den Naturtrip und reist als später Outdoorhippie um die Welt– allerdings nicht mehr ohne Goretexjacke mit Unterarmbelüftung und längselastische Trekkinghose.
Die Identitätsfragen der zweiten Lebenshälfte stellen sich in alltäglichen und weniger alltäglichen Situationen. Ich schildere in diesem Buch einige davon. Mein exzentrischer Freundeskreis spielt mit:
Britt, Künstlerin und verwitwet, ist Romantikerin geblieben. Sie gibt Fotoworkshops und Malkurse, doch ihr Herz schlägt für ihre Installationen zum Thema Körper undVergänglichkeit.
Freundin Suse macht im Brotberuf Werbung für den Bereich Wellness & Lifestyle. Zum Ausgleich ihres PR -Jobs betreibt sie nächtens einen schonungslosen Blog im Internet. Sie klärt in ihrem Blog auf über die ihrer Meinung nach wahren Verhältnisse zwischen Männern und Frauen, Körper und Macht.
Meine hundebesitzende Freundin Tine hingegen deutet Menschliches gerne durch den Verweis auf die Tierwelt.
Mein Ehemann Christoph geht mit mir zum Tanzkurs für Langzeitpaare, und mein alter Sportkumpel Winnie hat Probleme mit seinen Knien und seiner jüngeren Geliebten.
Namen, Schauplätze und Identitäten in diesem Buch sind verändert, auch um Personen zu schützen. Handlungsstränge wurden verdichtet oder erweitert und neu verknüpft. Als Gesellschaftsjournalistin habe ich zu den Themen, über die ich schreibe, viel recherchiert und Forschungsergebnisse gesammelt. Die Quellen finden Sie im Anhang.
Vielleicht erkennen Sie sich in manchem wieder oder lassen sich zu neuen Perspektiven anregen. Ich freue mich über Mails an:
[email protected]. Sie können mich auch auf meiner Homepage www.barbaradribbusch.d e besuchen.
Herzliche Grüße
Barbara Dribbusch
Friseurbesuch: Flirt mit der Vergänglichkeit
Wer ein Problem hat mit Vergänglichkeit und Verfall, lässt sich am besten einen Termin in Steffens Friseursalon geben. Dort fällt einem als Erstes der große Kreis an der Wand auf. Eine Zeichnung, mit Tusche auf Seidenpapier gemalt. »Eine Zen-Übung«, erklärt Steffen seinen Kundinnen und Kunden. »Eine Zeichnung von Hand. Hat ein befreundeter Künstler gemacht. Sie zeigt das Leben als einen ständigen Kreislauf. Keine Linie mit einem Endpunkt. Und erst recht keine Abwärtsbewegung.«
Steffen führt in Wahrheit ein Beratungscenter in Sachen Schönheit und Alter. Er hat es gut getarnt als Friseursalon namens »Wishful Thinking«. Und wer Angst hat vor Abwärtslinien und Abwärtsbewegungen, der findet dort Trost. Steffen, 52 , hat mal ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, wollte dann Maskenbildner werden und ist schließlich im Friseurwesen gelandet. Was sich gut verbindet mit seinem Hang zur Hobbyphilosophie.
In seinem großräumigen Etablissement mit den goldfarbenen Wänden und dem Kreis auf Seidenpapier fühlt man sich wie in