Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
leugnet, wenn er den Kopf in den Sand steckt. Man braucht nur den Blick gegen die Begriffsfülle zu verschließen, und das Wort leistet, was man nur verlangt. Der Chinese kommt mit seinen höchstens neunhundert lautlich verschiedenen Worten vollkommen aus. Ein und dasselbe Wort braucht nur verschieden betont zu werden und dient dann allen erdenklichen Zwecken der Verständigung. li bedeutet Pflaume, und Birne, und Kastanie, und Licht, und Vernunft, und noch sehr viel daneben, der andere weiß schon, was gemeint ist, besonders wenn der andere und der eine nach guter Chinesenart es verschmähen, sich auf feinere Begriffsschattierungen einzulassen. Vielleicht besitzt ihr höchstentwickelter Dialekt, der von Fu-tschou, sogar einen prägnanten und ironisch betonten Einsilber für die Entbehrlichkeit der Schattierung und für die Lächerlichkeit eines Sprechers, der ihr nachläuft. Auf Deutsch-Chinesisch nennt man das »Nüanksse«.
Der Purist wird den Hinweis auf das Chinesische ebenso ablehnen wie alle Bildschlüsse von Bacons Gespenstern bis zum atomistischen Abbau und Neubau. Er fühlt sich als ein Krösus im Besitz seiner ein- bis zweimalhunderttausend Worte, mit denen er alle Begriffsnot zudecken kann. Denn diese seine Worte, so behauptet er, sind klar, fest, scharf bestimmt, während die fremden schon deshalb nicht als Aushilfe in Betracht kommen, weil er sie allesamt als verschwommen, unklar, nebelhaft erkannt hat.
Nun denn! wenn der Purist ansagt: Alles deckt sich, ist bedeckbar mit den Wörtern der Heimat, so behaupte ich dagegen: Nichts deckt sich, selbst wenn wir die Hilfe aller erdenklichen Auslandswörter hinzurechnen. Wenn einer in Erstaunen oder Entrüstung ausruft: »Ich finde keinen Ausdruck ...«, »Das ist einfach unbeschreiblich!« so befindet er sich nicht in der Ausnahme, sondern in der Regel; denn wo er sonst vermeint, den sicheren Ausdruck zu haben, beschreibt er ebenfalls ungenau, wenn auch ausreichend für das gewöhnliche Verständnis. Nur im Gebiet der Mathematik – und auch da nicht durchweg – umkleidet das Wort straff und prall den Begriff, während es sonst ihn mehr oder minder lose umhängt, oft schattenhaft nachschlottert; was sich auch anders gesehen so darstellen kann, als schlottre der Begriff um das vorgestellte Wort. So oder so, wenn wir nicht gerade von mathematischen Exaktheiten reden, deckt sich nichts, ein Nebelrand, ein Rest von Gespenstischem bleibt immer bestehen, damit haben wir uns abzufinden. Und da wir erkannt haben, daß das Wort immer hinter der erwarteten Leistung zurückbleibt, so wollen wir uns wenigstens die Möglichkeit nicht verschränken, die Leistungsgrenze ein wenig hinauszurücken.
Im großen und ganzen wird feststehen: der Schluderer kann deutschen oder welschen, er wird immer schludern. Die Unklarheiten liegen bei ihm zu allererst in seinem Mund und in seiner Feder. Er kann an den möglichen Grad der Klarheit gar nicht heran, weil seine Gedanken in ihrer atomistischen Abspaltung vorwiegend die Kennzeichen einer fauligen Gärung darbieten. Damit entfallen schon tausende von Beispielen, die uns aus Schriften untergeordneter Schreiber zur Abschreckung vorgehalten werden. Sie beweisen uns nur, daß des Schluderns kein Ende ist, und das begründet an sich noch gar keinen Notstand in der Literatur; denn wäre der Meister denkbar ohne das Gegenbild der Stümper?
Aber auch der anerkannte Meister muß sich den Rüffel gefallen lassen, wenn er nicht so tut, wie die Gestrengen von der klaren Observanz wollen. Goethe verteidigte (durch Aurelie in Wilhelm Meister) die Anwendung von »perfide«. »Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es (das Französische) eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache. Ich finde, Gott sei Dank, kein deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken; unser armseliges treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß. O, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Wort auszudrücken weiß.« Stelle dich ad audiendum verbum, Meister Goethe! vernimm die Belehrung, daß zwar nicht treulos, aber heimtückisch, arglistig, hinterlistig genau dasselbe leisten wie perfid und stecke dir die Rüge dafür ein, daß dir dies nicht einfiel.
Darf man die Vermutung aussprechen, daß Goethe bei aller hier so grausam aufgedeckter Spracharmut doch noch eine besondere Schattierung, eine ganz feine, nur dem Akzent erreichbare, treffen wollte? Es war vielleicht
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