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Das Geheimnis der Sprache (German Edition)

Das Geheimnis der Sprache (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Sprache (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Moszkowski
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Gegenbilder finden. Es soll kein physikalischer Satz sein, sondern eben nur gedankenexperimentell verstanden werden, wenn ich mich zu der Ansage versteige: Die Begriffe einschließlich der Empfindungen, mit denen wir arbeiten und die uns bearbeiten, bilden eine radioaktive Familie.
    Ihr Kennzeichen ist die beständige Umwandlung, der Zerfall und die Abspaltung. Bei den in der Chemie betrachteten Elementen schwanken die Zerfallsperioden zwischen Milliarden von Jahren und Bruchteilen einer Sekunde. Das Eisen z. B. besitzt wirklich eine eiserne Natur und dementsprechend eine ungeheure Lebensdauer während das Niton[= Radon] in vier Tagen, eine bestimmte Radiumklasse in drei Minuten Zerfallserscheinungen aufzeigt. Diese Umwandlungen erfolgen nicht stetig, sondern in kleinsten Teilteilchen explosiv, wie denn überhaupt die Atome im Kleinen das wiederholen, was wir im Großen als Explosion und Bombardement bezeichnen.
    Man ist (in der sogenannten Quantentheorie) dazu übergegangen, auch in dem Walten der unkörperlichen Kräfte eine atomistische Struktur anzunehmen, und eine neue auf Intuition gegründete Philosophie bezeichnet zudem das Wesen unserer sinnlichen und seelischen Wahrnehmung als ein unstetiges, atomistisch auflösbares. Die Brücke ist also eigentlich schon gegeben. Und da Intellekt, Seele, Wahrnehmung, Begriff, Empfindung nur verschieden dargestellte Formen derselben Sache sind, so gehört kein übertriebener Wagemut zu der Folgerung: unsere Begriffe zerfallen beständig, spalten ab und bilden Neu-Elemente, welche diese Tätigkeit in Explosionen bis ins Unabsehbare fortsetzen.
    Kein Begriff, und sei er auch noch so alt und scheinbar gefestigt, widersteht dem Abspaltungsprozeß; er verändert sich nicht nur, sondern er schleudert unablässig Teilchen von sich, die sich zu neuen Gestaltungen zusammenfinden. Und kein Neubegriff ist jemals aufgetaucht, der nicht aus Altem sein Material gewonnen hätte. Ihre Anzahl überschreitet alles Vorstellbare, das Zählen hört bei ihnen auf wie im Bombardement der Atome. Jede geringste Verschiebung in einer Empfindung, jedes zum ersten Mal wahrgenommene Pulsieren in einem Nerv ist etwas begrifflich Neues, wünscht, – fast immer vergeblich, – in Sprache mitgeteilt zu werden. Mit den Radio-Elementen verglichen sind dies Empfindungen von kürzester Lebensdauer, räumlich oft nur auf einen einzelnen Menschen angewiesen, zeitlich auf Tage oder auf Sekunden beschränkt. Und zwischen ihnen und den Dauerbegriffen lebt eine Welt von Begriffsformen in stetem Kampf mit der Sprödigkeit des Ausdrucks. Denn das Wort kann diese Explosionstätigkeit nicht mitmachen. Seine Abwandlungsfähigkeit ist gering, seine Beständigkeit vergleichsweis ungeheuer. Das Wort arbeitet mit den endlichen Permutationen weniger Zeichen, bleibt also mit all seinen Veränderungen im Endlichen, bis zu Null Geringfügigen gegenüber der Unendlichkeit der unvollendbaren Begriffe. Jeder Allgemeinwert – (wie Welt, Gottheit, Kraft, Stoff, Form, Erscheinung, Begriff, Idee, Wesen, Art, Gattung, Leben, Beziehung) – wird vom wogenden Begriffsinhalt immer stärker aufgetrieben und besagt immer weniger, je mehr auszudrücken er sich abmüht. Er gibt vor, etwas zu sein, zwingt uns, daran zu glauben, selbst wenn wir die Dünnheit des Worthäutchens durchschauen, verhält sich dem Verstande gegenüber gespenstisch. Wir empfinden das Mißverhältnis zwischen Worthülse und Inhalt, besitzen aber kein Mittel, uns aus der Unstimmigkeit zu befreien und verfallen immer wieder in den Aberglauben, dem Wort eine greifbare Bedeutung zuzuschreiben. Wir wirtschaften mit ihnen wie mit Banknoten von ungeheurem aufgedruckten Wert, kommen uns immens reich mit ihnen vor und erleben niemals den Augenblick der Umwechslung in erprobbares Bargeld.
    Aber auch die Legionen der Worte von engerer Spannweite gebärden sich träge in der Fortzeugung gegen die wimmelnde Vermehrung der Begriffe und Empfindungen, denen sie beikommen wollen. Eine endlose Begriffsbrut schreit unartikuliert nach Worten, aber ehe auch nur das Dürftigste herbeigebracht ist, hat sich die Zahl der leeren Mäuler schon wieder vermehrt. Dem Mißverhältnis zwischen den Neuzeugungen hüben und drüben ist nicht beizukommen, auch die Aufschüttung der weltbürgerlichen Fremdworte nützt nicht viel, aber sie hilft doch manchmal in Minuten der äußersten Bedrängnis. Man kann der Bedrängnis wehren, indem man sie einfach leugnet; sowie der Vogel Strauß das Widrige

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